Hsg.: Corina Erk / Matteo Galli / Jörn Glasenapp
LOLA, TONI, YELLA UND DIE ANDEREN: DER DEUTSCHE FILM NACH 1990
Ein Kanon
In der Reihe: Inter/Media, Band: 19
484 Seiten, Verlag Brill | Fink, 2023
Es gibt viele Möglichkeiten, über Entwicklungen zu schreiben – meist wählt man Übersichten thematischer, formaler, soziologischer Natur oder welchen Aspekt immer man in den Vordergrund rücken will. Der von Corina Erk, Matteo Galli und Jörn Glasenapp heraus gegebene Band, der sich den letzten dreißig Jahren des deutschen Films widmet, wählt den Weg der Einzelanalyse einzelner Werke.
Auf die drei Namen, die im Titel dieses Buches aufgezählt werden, reagiert jeder kenntnisreiche Filmfreund sofort: „Lola“ – das ist heute nicht mehr die Dietrich als „tolle Lola“, das war vielmehr Franka Potente in „Lola rennt“, dem Film von Tom Tykwer aus dem Jahr 1998, wo die Heldin gewissermaßen in einer Zeitschleife gefangen war. „Toni“ ziert sogar das Titelbild – Peter Simonischek, der in seinen letzten Jahren noch eine so sensationelle Filmkarriere gemacht hat, hier als „Toni Erdmann“, der Vater der grandiosen Sandra Hüller, 2016 von Maren Ade vorgelegt und damals das Gespräch der gesamten Filmwelt. „Yella“ schließlich war 2007 Nina Hoss in Christian Petzolds gespenstischer Auseinandersetzung mit der DDR. Drei Filme, die jeder kennt, der sich für Kino interessiert.
Der deutsche Film hat seine Ups and Downs, mochte in Europa immer wieder hinter den Franzosen, Italienern, Engländern herhumpeln, aber es wäre ungerecht, ihm seine wichtige Rolle in den letzten Jahrzehnten zu versagen. Das Buch, ein „Kanon“ genannt, nicht das Ergebnis eines Symposions, sondern eine Initiative aus der Universität Bamberg (wo Corina Erk und Jörn Glasenapp tätig sind, Matteo Galli ist in Ferrara und Florenz verankert).
In 30 Einzelartikeln, die 30 Filme behandeln (wobei man sich im klaren ist, dass die Auswahl auch hätte ganz anders ausfallen können), fragt man, wie die Herausgeber im Vorwort formulieren, nach „ihrer Rezeption, ihren Kontexten, ihrer Ästhetik, ihrer film-historischen Bedeutung“.
Dabei legt man die Latte hoch: „Ein möglicher, vorläufiger und gegebenenfalls unvollständiger Kriterienkatalog von Merkmalen kanonischer Filme müsste ihre Aufnahme in die Filmgeschichtsschreibung ebenso berücksichtigen wie ihren Status bei Festivals und Preisverleihungen, ihre Einschätzung als ‚Musterfilme‘ durch die Filmkritik, ihre Behandlung in und durch die Filmwissenschaft, ihr Referenzpotenzial für nachfolgende Filme, ihre Aufnahme in Filmarchive, ihr Weiterleben in Retrospektiven im Kino, auf Filmfestivals und/oder im Fernsehen respektive auf Streaming-Plattformen, ihren kommerziellen Erfolg, ihre Relevanz in Bildungszusammenhängen, ihre gesellschaftliche Bedeutung etc.“ (Zitat Ende)
Im Gegensatz zu den Titelfilmen, die Popularität und Qualität verbinden, ging es nicht darum, die erfolgreichsten Werke der Regisseure zu wählen, sondern möglicherweise typischere, aussagekräftigere. Aber auch Komödien, die man in einem wissenschaftlichen Werk nicht vermutet hätte, spielen eine Rolle, wie etwa „Der bewegte Mann“ (Sönke Wortmann, 1994) oder „Fack ju Göhte“ (Bora Dagtekin, 2013), deren Kontext zur deutschen Wirklichkeit ihrer Zeit sich in den damals gefragten Genres erschließt.
Da es sich um Einzelartikel handelt, die von möglichst „diversen“, auch ausländischen Betrachtern behandelt werden (weil der Blick von außen nie jenem von innen gleichen kann). ist hier keine „Einheit“ der Betrachtung zu gewinnen, auch wenn sich aus der Chronologie der Werke Erkenntnisse ergeben können. Aber die große Übersicht über die Entwicklung, die interessant gewesen wäre, ist hier nicht geboten. Vielleicht wäre für den Leser etwa eine querschnittartige Stoff-Befragung – wer wählte wann warum welches Thema, ob Geschichtsbetrachtung, Gegenwartsprobleme oder Eskapismus – fesselnder zu lesen gewesen.
Immerhin ergibt sich die Vielfalt des deutschen Films aus den Regisseuren und Thematiken, wobei die Herausgeber für den Titel des Buches so ungefähr die populärsten Werke gewählt haben. Im übrigen befinden sich Filme, die ganz breite Resonanz fanden (wie Donnersmarcks „Oscar“-gekröntes „Das Leben der anderen“ oder Hanekes „Das weiße Band“) in der Minderheit. Da herrschen (mit Ausnahmen) die Raritäten vor – Werner Herzog hat weit bekanntere und auch signifikantere Filme gedreht als die ausgewählten (aber dergleichen ist ja immer Geschmackssache des Einzelnen).
In diesem Zusammenhang mag es für die Leser am sinnvollsten erscheinen, die Artikel aufzulisten, so dass auch jeder entscheiden kann, was ihn – aus welchen persönlichen Gründen auch immer – am meisten interessiert:
Der bewegte Mann (Sönke Wortmann, 1994)
Die Sieger (Dominik Graf, 1994)
Lisbon Story (Wim Wenders, 1994)
Der Totmacher (Romuald Karmakar, 1995)
Lola rennt (Tom Tykwer, 1998)
Black Box BRD (Andres Veiel, 2001)
Die innere Sicherheit (Christian Petzold, 2001)
Halbe Treppe (Andreas Dresen, 2002)
Good Bye Lenin! (Wolfgang Becker, 2003)
Der Untergang (Oliver Hirschbiegel, 2004)
Gegen die Wand (Fatih Akin, 2004)
Marseille (Angela Schanelec, 2004)
Grizzly Man (Werner Herzog, 2005)
Das Leben der Anderen (Florian Henckel von Donnersmarck, 2006)
Requiem (Hans-Christian Schmid, 2006)
Yella (Christian Petzold, 2007)
Der Baader Meinhof Komplex (Uli Edel, 2008)
Im Winter ein Jahr (Caroline Link, 2008)
Kirschblüten – Hanami (Doris Dörrie, 2008)
Novemberkind (Christian Schwochow, 2008)
Das weisse Band (Michael Haneke, 2009)
Oh Boy (Jan-Ole Gerster, 2012)
Die andere Heimat (Edgar Reitz, 2013)
Fack ju Göhte (Bora Dagtekin, 2013)
Toni Erdmann (Maren Ade, 2016)
Wild (Nicolette Krebitz, 2016)
Western (Valeska Grisebach, 2017)
Gundermann (Andreas Dresen, 2018)
Heimat ist ein Raum aus Zeit (Thomas Heise, 2019)
Systemsprenger (Nora Fingscheidt, 2019)
Renate Wagner