Erste Ballettpremiere am neuen Linzer Musiktheater: SCHWANENGESANG am 12.10.2013
Tanzstück von Mei Hong Lin mit der Musik von Michael Erhard nach dem Roman „Bruges-la-Morte“ von Georges Rodenbach
Foto: Linzer Musiktheater
Mit Jochen Ulrich hatte das Linzer Landestheater 2006 mit der Perspektive des neuen Hauses einen international höchst renommierten Ballettdirektor engagiert – nur war es diesem leider nicht mehr vergönnt, die großen Möglichkeiten des neuen Musiktheaters mit eigener Arbeit auszuloten. Intendant Rainer Mennicken mußte kurzfristig Ersatz für die Ballettsparte suchen und wurde in Darmstadt fündig: die gebürtige Taiwanesin Mei Hong Lin hat in ihrem Geburtsland studiert, in Rom und schließlich in Essen bei der großen Pina Bausch und war seit 2004 in der quasi Geburtsstadt der neuen Deutschen Musik Ballettdirektorin. Unter anderem hat sie dort 2009 Rodenbachs düsteren Roman, der ja schon als Vorlage für die laut Marcel Prawy „letzte Oper im klassischen Sinne“ von Erich Wolfgang Korngold gedient hatte (sowie für die Geschichte „D’entre les Morts“ von Boileau und Narcejac, von Alfred Hitchcock als „Vertigo“ verfilmt), für ein Tanzstück verwendet. Die Musik dazu steuerte der ebenfalls in Darmstadt tätige Michael Erhard bei, die dramaturgische Betreuung lag bei Sarah K. Schäfer und Ira Goldbecher. Eine Auffrischung an der neuen Wirkungsstätte war naheliegend, zumal Frau Lin auch etliche Tänzerinnen und Tänzer aus Hessen nach Linz mitgebracht hatte.
Das Wesen der Geschichte kann – zwischen Korngold und Hitchcock – als bekannt vorausgesetzt werden. Das erste Bild zeigt in dieser Fassung den Verlust der Gattin des männlichen Protagonisten Hugo (Sven Gettkant), Marie, offensichtlich in einem wildbewegten Meer. Das Toben der Wellen wird durch Klone dieser Marie dargestellt (Rie Akiyama, Mireia González Fernández, Sabra Johnson, Andressa Miyazato,
Sabine Prokop, Anna Štĕrbová, Ilja van den Bosch). Im nächsten Bild wird die Fürsorge und wachsende Zuneigung der Magd Barbe (Nuria Gimenez Villarroya) für Hugo (der ebenfalls in viele Personen aufgespalten ist) intensiv thematisiert. Dieser jedoch – Bild 3 – sieht seine Marie, auch anhand eines Schreins mit Erinnerungsstücken, immer und überall, fühlt sich von ihr verfolgt, gar ausgesaugt, versucht sich schließlich ihrer sogar per Erwürgen zu entledigen. Brügge selbst wird mit seinen düsteren Seiten (an Krähen erinnernde Dämonen), parallel zu Hugos Seelenverfassung, aber auch mit nicht immer ganz disziplinierten Nonnen, den Glocken des Carillon und, natürlich, seinen Schwänen, in Bild 4 thematisiert. Dann tritt Mariette (Mireia González Fernández), der Toten nur zu ähnlich, in Hugos Leben; alle Vorhaltungen und Beteuerungen von Barbe nützen nichts. Im Bild 6 schließlich kulminiert die nekrophil gefärbte Leidenschaft Hugos für die „neue Marie“ und ihre Reaktion darauf in einem für ihn nur gewaltsam zu lösenden Konflikt. Als weitere wichtige Figur kommentiert und illustriert die „zerfallene Marie“ (hochkonzentriert und präzise: Julio Andrés Escudero) pantomimisch das Geschehen. Die weiteren, als Projektionen von Hugo, als Dämonen etc. Vielbeschäftigten sind: Sakher Almonem, Damián Cortes Alberti, Wout Geers, Daniel Morales Pérez, Alexander Novikov, Matej Pajgert, Geoffroy Poplawski, Pavel Povrazník, Jonatan Salgado Romero; auch bei den Herren also ein sehr bunt-internationales Bild.
Das alles wird in intensiver Körperlichkeit, mit bisweilen anspruchsvoller Artistik, bisweilen auch ebenso leiser wie nichtsdestowenig überzeugender, oft richtig aufwühlender Ausdruckskraft, über die Rampe gebracht; zu den verwendeten Mitteln gehören auch – großteils nonverbale – Lautäußerungen.
Die Bühne ist dabei (scheinbar) sehr einfach: alles in Schwarz, ein Großteil der Aktion findet auf einem niedrigen, aber großflächigen Podest in der Mitte der Bühne statt, das bisweilen durch indirektes blaues Licht von der Umgebung abgehoben wird. Gelegentlich erscheint ein wuchtiger Kasten als Behältnis der Reliquien Mariens (und als Behältnis der Obsessionen Hugos), oder es werden Glockenseile herabgelassen, die auch an die Schlinge des Henkers erinnern. An der Bühnenvorderkante, vor dem Orchestergraben, ist ein Wasserbecken eingelassen, zur szenischen Verwendung, aber auch für einige Lichteffekte mitverantwortlich. Die Bekleidung orientiert sich an den eleganteren Seiten der 1920er-Jahre, Licht und Projektionen sind sparsam eingesetzt; Gestaltung: Thomas Gruber.
Schließlich zur Musik: Michael Erhard dürfte sich bei seiner Komposition, die während der Erarbeitung der Inszenierung von 2009 in Darmstadt aus Improvisationen entstand, an Zeitgenossen des Romanautors orientiert haben. Die Hauptthemen erinnern an Erik Satie oder Maurice Ravel, aber definitiv nur in Stilistik und Harmonik, oder Durchdringung, keinesfalls im Sinne einer plumpen Kopie. Wird es bewegter, könnte man an Kurt Weill denken. „Im Ohr hängen geblieben“ im Sinne Prawys (und von „Glück, das mir verblieb“) ist allerdings keine der durchaus elaboraten Melodien. Es bleibt im Übrigen einiger Raum für jazzige Improvisation, von cool bis free (ohne daß dadurch die Synchronisation der Bühne mit dem Orchestergraben beeinträchtigt wäre!); das Musikerensemble ist somit echter Mitschöpfer der aktuellen Produktion, daher im Einzelnen zu nennen: Flügel und präpariertes Pianino sowie keyboard: Nebojša Krulanović, Saxofon: Thomas Mandel, Kontrabass: Enes Seferovic, Violoncello: Maria Lydia Mayr, Klarinette: Michael Drankewitsch, Schlagzeug: Andreas Luger. Dieses Sextett holt ein faszinierend weites Klang- und Stimmungsspektrum aus seinen Instrumenten und gibt den 19 engagierten und ausdrucksstarken Tänzerinnen und Tänzern den perfekten Partner für ihre hinreißende Darstellung ab.
Die ca. 90 Minuten Aufführungsdauer vergehen ausgesprochen schnell, und das bedauerlicherweise (Angst vor unbekannter Musik??) nicht ganz voll besetzte Haus spendet den Tanz- wie Musikensemble und genauso dem Produktionsteam gut 10 Minuten hochzufriedenen bis begeisterten Applaus.
Für alle, die interessiert, aber noch unsicher sind, ein Ausschnitt aus der Darmstädter Aufführungsserie: http://www.staatstheater-darmstadt.de/spielzeit/archiv-spielzeit-0910/tanz/1329-schwanengesang, Bilder der (weitestgehend identen) Linzer Produktion bei http://www.landestheater-linz.at/8578_DE-Stuecke-Stueckinfo.htm?stueckid=2678&sparte=8.
Helmut & Petra Huber