LINZ/ Neues Musiktheater: CARMEN. Premiere am 24.5.2014
Oper in vier Akten; Libretto von Henri Meilhac und Ludovic Halévy, nach einer Novelle von Prosper Mérimée, Musik von Georges Bizet
In französischer Sprache mit deutschen Übertiteln
Katerina Hebelkova. Foto: Christian Brachwitz im Auftrag Musiktheater Linz
Zu Anfang und Ende der ersten vollen Saison im neuen Linzer Musiktheater standen zwei der meistgespielten Opern des internationalen Repertoires. Soll das Inszenierungskonzept Bekanntes bzw. Ausgetretenes bemühen oder ganz neue Annäherungen wählen? Im besten Fall sichere Bank und aufregend Neues versus bei Versagen Langeweile und Klischee oder zwangsoriginelle Wirrnis. Die „Zauberflöte“ vom September 2013 war schon als moralisches, bisweilen bissiges Märchen aus der Computerwelt eine sehr gelungen Sache; bei einem Märchen hat man freilich viel mehr plausible Möglichkeiten, vom originalen Regietext abzuweichen als bei einer realistischen und düsteren Geschichte von der Schattenseite des Lebens. Und dann hat jeder nur einigermaßen erfahrene Opernbesucher sicher schon seine 5 oder 10 Carmen-Inszenierungen gesehen, manche noch viel mehr.
Es gibt in Caracas, Venezuela, einen mißglückten und mangels Geld nie fertig gebauten Wohn- und Büroturm, namens Torre de David; 45 Stockwerke oder 190 Meter hoch, 2007 besetzt und seither in zweifelhafter Selbstverwaltung durch „Chavisten“: http://www.spiegel.de/politik/ausland/torre-de-david-in-caracas-chavez-leute-besetzen-hochhaus-a-834195.html Ein Mikrokosmos an gebrochenen Schicksalen, Schattenwirtschaft, bis hin zum blanken Verbrechen, wohl zum größeren Teil dauerhaft außerhalb eines staatlichen Rechtssystems angesiedelt – also ein Äquivalent zur längst abgerissenen Geheimen Stadt in Hong Kong. Ein reichhaltiger Quell an Charakteren, die sich ins Buch dieser populären Oper einpassen lassen, ohne Werk oder adoptierte Realität zu vergewaltigen; Anhänger des verstorbenen venezolanischen Populisten-Präsidenten könnten freilich weniger begeistert sein über diese Idee…
Pedro Velazquez-Diaz. Foto: Christian Brachwitz im Auftrag Musiktheater Linz
Regisseur (und Maler) Elmar Goerden hatte den Einfall, dieses „vertikale slum“ als Biotop für die Menschen, die diese Oper bevölkern, heranzuziehen: die Bühne (Ulf Stengl, Silvia Merlo) stellt das Souterrain des Hochhauses mit ein paar halbverluderten Sporteinrichtungen sowie Stiegenhaus und Eingangshalle dar – eine gewaltige, alleine schon als statisches Bild beeindruckende wie bedrückende Szenerie. Daneben dürften, wohl nicht der offiziellem Handel und Wandel zuzurechnende, Fabriks- und Lagerräume existieren. Um diese zu füllen, wurde auch an Personal nicht gespart: insgesamt 93 Choristen – Chor, Extrachor und Kinderchor (perfekt musikalisch und szenisch einstudiert von Georg Leopold, Martin Zeller und Ursula Wincor) erschienen u. a. als reichlich verluderte und zweifelhafte Soldaten, Schmuggler/Hehler und Publikum beim Stierkampf. Die Kostüme wurden mit scharfem (keineswegs humorlosen) Blick für die Bekleidungssitten (und -möglichkeiten) eines modernen Lumpenproletariats von Laura Clausen gestaltet – vielleicht auch mit der ebenso arroganten wie doch nur zu wahren Sottise vom Karl Lagerfeld im Hinterkopf, dass jemand, der in Jogginghosen auf die Straße gehe, die Kontrolle über sein Leben verloren habe. Ach ja: die Textstelle des Chores der müßiggehenden Soldaten zu Beginn des 1. Aktes mit den „seltsamen Leuten“, die man beobachte, wurde auch sehr wörtlich genommen – da kann es schon einmal sein, daß ein leicht dementer Stadtindianer durch die Gänge streift. Dies nur eines von vielen offensichtlich sorgfältig aus Textbuch und gewähltem Ort der Handlung abgeleiteten stimmigen Details.
Aus all dem ergibt sich eine Inszenierung, die ebenso ungewöhnlich wie einleuchtend und stringent ist: auch bei aufmerksamer Beobachtung des Textes zeigen sich keine gravierenden Logikbrüche oder Widersprüche, und die psychologisch sorgfältig abgezirkelten schauspielerischen Leistungen des gesamten Ensembles schaffen zusammen mit der Ausstattung eine selbsterklärende Handlung in spannender, lebenspraller Erzählung.
Noch was Bemerkenswertes: Goerdens Regie läßt die Ouverture Ouverture sein und daher den Vorhang unten. Leider selten geworden…
Gotho Griesmeier und Martha Hirschmann sind der Titelfigur als Frasquita und Mercédès sängerisch und schauspielerisch hochklassige Partnerinnen. Sergeant Morales (nebst einem Zollbeamten im dritten Akt) wurde vom verlässlich guten Franz Binder in einer Maske, die an einen linken oberösterreichischen Altpolitiker (und seinerzeitigen Nicaragua-Begeisterten) erinnerte, herzhaft und hintersinnig auf die Bühne gestellt; Leutnant Zuniga, der wenig auf Disziplin gibt, insbesondere was ihn selbst angeht, dafür dem einen oder anderen Übergriff (kann auch einmal ein Kind dabei sein) nicht abgeneigt ist, ist für Dominik Nekel eine dankbare Rolle.
Köstlich kostümierte und gespielte Schmuggler/Großhehlereiunternehmer/Rauschgift-Engroshändler: Dancairo Matthäus Schmidlechner im diskret überfeschen Zweireiher mit rattenscharfem Hut (und dazu Herrgottsschlapfen mit nackten Füßen drin), denkt wohl, er könne hinsichtlich Lässigkeit Humphrey Bogart und James Cagney gleichzeitig ins Westentaschl stecken; Remendado (Sven Hjörleifsson) macht einen auf schrill-bunten Vogel, der an seinem smartphone einen Narren gefressen hat, selfie-Sucht eingeschlossen. Auch sängerisch sind beide erstklassig.
Myung Joo Lee ist eine bewegende und stimmlich mit gewaltigem klingend nutzbarem Dynamikumfang glänzende Micaela. Ihr verzweifeltes Gebet im dritten Akt erzeugt Gänsehaut. Escamillo Seho Chang tritt in all dieser Tristesse als wahre Lichtgestalt auf und lässt im Großteil seiner Bühnenpräsenz seinen warm timbrierten Bariton strömen – nur das berühmte Auftrittslied gerät recht eigenwillig: einerseits fehlt es Herrn Chang an der alleruntersten Tiefe, andererseits mimt er hier eine Figur, die, auch in der Artikulationsweise, etwas an einen japanischen Samurai-Krieger erinnert, wie man sie aus den Filmen von Akira Kurosawa kennt: schroffe, barsch abgehackte, bedrohlich-wütend wirkende Phrasierung, auch die Haartracht spricht für dieses Rollenvorbild; wenn die Wirkung so intendiert war, eine reife Leistung – aber wirklich in diese Umgebung passend?
Don José ist, wie schon in der letzten Linzer „Carmen“ vor 10 Jahren, Pedro Velázquez Díaz; diesmal erlaubt ihm die Regie, selbst die schauspielerische Gestaltung dieser verzweifelten und aus Überforderung zur Gewalt Zuflucht nehmenden Figur zu übernehmen, was er sehr gut macht (seinerzeit hatte man ihm wichtigtuerisch eine Art Avatar zur Seite gestellt, der das Innenleben von José verdeutlichen sollte – gähn…); stimmlich gibt er sich mitunter mehr Mühe, als er nötig hätte, denn die Rolle liegt ihm durchaus; viele Passagen gelingen ihm sehr ansprechend, namentlich das Duett mit Micaela im ersten Akt.
Einschränkungen irgendwelcher Art gelten für Katerina Hebelkova in der Titelrolle freilich ganz und gar nicht: ihre Carmen ist als selbstbewußte und herausfordernde Blume (manchmal auch Blüte) im Ghetto herangewachsen, der Prototyp des Mädchens, das nicht in den Himmel kommt, aber dafür überall hin. Ein gewaltiges Register an Klangfarben und eine selbstverständliche Beherrschung eines großen Ton- und Dynamikumfanges sowie körperliche Fitness unterstreichen und fördern intensives Schauspiel, das die bekannten Klischees dieser Rolle vermeidet. Egal ob sie sich unter ihresgleichen durchsetzt, ob sie die Männer triezt, ob sie José verfällt, ob sie ihn als Weichei verspottet (gleichzeitig aber zu sich lockt), als er den Tönen des Zapfenstreiches pflichtschuldig folgen will, oder ob sie als versteinerte Todesgewisse mitten im fröhlichen Haufen der Corrida-Begeisterten als verstörender Fremdkörper herausragt – der Abend und die gewaltige Bühne gehören ihr!
Das Bruckner Orchester musizierte fast immer technisch präzise und musikalisch unbestechlich unter der Leitung von Daniel Linton-France – nur den ersten Abschnitt der Ouverture nahm der Dirigent ein bissl gar schnell, sodass einzelne Instrumentengruppen an ihre technischen Grenzen stießen. Der große Rest der Aufführung war musikalisch perfekt, spannungsreich und stand im Einklang mit dem Geschehen auf der Bühne, in jeder Beziehung. Besonders schön gelungen das lyrische Flötenensemble in der 3. Entr’acte-Musik!
Mit 10 Minuten zeitlich knapper, aber für Solisten und Chöre sowie Dirigent und Orchester sehr lauter Applaus. Das Produktionsteam musste einige Buhrufe einstecken, die aber schließlich zugunsten der Bravos versiegten. Auch die letzte Produktion der Saison 2013/14 im großen Haus ist somit erfolgreich über die Bühne gegangen, wieder mit einer sehr originellen, dabei aber überzeugenden und plausiblen Inszenierung.
H & P Huber