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LINZ/Musiktheater RAGTIME von Terence McNally und Stephen Flaherty

Wer wagt, gewinnt !

02.03.2019 | Allgemein, Operette/Musical

Gino Emnes (Coalhouse Walker) und Myrthes Monteiro (Sarah)  Foto: Copyright Reinhard Winkler

Wer wagt, gewinnt
RAGTIME
von Terrence McNally (Buch) und Stephen Flaherty (Musik)
Im MUSIKTHEATER des Linzer Landestheaters am Volksgarten
Freitag 1. März 2019     Von Manfred A. Schmid

 

In der ziemlich verblassten „Musicalstadt Wien“ spielt man in I am from Austria unverdrossen bebilderte Hits von Reinhard Fendrich hinauf und hinunter, zehrt in Bodyguard vom Abglanz der allzu früh verstorbenen Whitney Houston oder ist in der Volksoper dabei, das musikalisch ziemlich uninspiriert daherkommende Bernstein-Musical Wonderful Town – auch Genies produzieren manchmal nur Dutzendware – mit nicht geringem, aber letztlich unbelohntem Aufwand abzustauben. Anspruchsvolle und packende Musicalproduktionen muss man derzeit anderswo suchen. In Linz zum Beispiel. Dort sorgt Ragtime nach dem gleichnamigen Roman von E. L. Doctorow – Premiere war am 1. Februar – ungebrochen für Begeisterung.

Die komplexe, dicht verwobene literarische Vorlage, eine kühne Abrechnung mit dem amerikanischen Traum, spielt in New York in der Ära des Ragtime, also in der Zeit zwischen 1900, als aus Europa neue Einwandererströme ins Land kamen, und dem Ausbruch des 1. Weltkriegs. Der Name „Ragtime“ kommt aus der afroamerikanischen Musik und bezieht sich auf den damals neuen, ungewohnt synkopierten Musikstil, der durch die Verwendung von Stücken aus der Feder von Scott Joplin im Film Der Clou mit Paul Newman und Robert Redford auch bei uns bekannt geworden ist. Geschickt und – aller Tragik zum Trotz – mit feinsinnigem Humor verknüpft das Musical (Libretto von Terrence McNally) drei sozial sehr unterschiedliche Gruppen in einer bunten, kaleidoskopartigen Handlung, die ihren Anfang nimmt, als Sarah, eine junge Schwarze, ihr Neugeborenes im Garten einer wohlhabenden weißen Familie ablegt. Beide werden von der mitfühlenden Mutter ins Haus genommen. Bald macht sich dort auch der Kindesvater, ein talentierter Ragtime-Pianist, vorstellig, und das Verhängnis nimmt seinen Lauf. Coalhouse Walker, sein Name ist eine Anspielung auf Kleists Michael Kohlhaas, entpuppt er sich doch als beharrlicher Kämpfer für Gerechtigkeit, der sich gegen die Diskriminierung der Schwarzen wendet und – enttäuscht und voll Verzweiflung – schließlich zu einem gewaltbereiten Stadtguerillero wird und im Kugelhagel der Polizei sein Ende nimmt. Dramatische Sozialdramen – in prägnant kurzen Episoden eingeblendet – spielen eine große Rolle:  Versammlungen der sich formierenden Arbeiterbewegungen, brutal niedergeknüppelte Streiks, politische Agitation, Anarchismus, erwachender Feminismus und Repression verweisen ebenso auf  vorherrschende gesellschaftliche Konflikte wie das Auftauchen von zeitgenössischen Ikonen wie Booker T. Washington, Henry Ford, J.P. Morgan oder Houdini.

Dass die Ära des Ragtime auch die Zeit ist, als die Bilder laufen lernten,  erfüllt sich am Schicksal des aus Lettland stammenden jüdischen Einwanderers Tate, der sich und seine Tochter zunächst erfolglos mit dem Verkauf von selbstverfertigten Scherenschnitten durchzubringen versucht, alsbald ein erfolgreicher Filmregisseur wird und am Schluss die inzwischen verwitwete Mutter ehelicht. Die dadurch entstehende Patchworkfamilie ist eine augenzwinkernd postulierte Idylle gelungener amerikanischer Integration: eine weiße Mutter und ihr Sohn, Tate und seine Tochter sowie das Kind Sarahs, das nach deren Tod – sie wird bei einer Demonstration erschossen – die Familie um einen weiteren Farbton bereichert.

All das klingt recht verwirrend, dem Regisseur Matthias Davids gelingen aber atemberaubende Abläufe, die den jeweiligen Handlungsverlauf stets transparent erkennbar machen. Daran hat auch das praktikable, ausgefeilte Bühnenbild von Hans Kudlich seinen Anteil, das rascheste Verwandlungen ermöglicht, in erster Linie aber die fetzige Musik von Stephen Flaherty, die nicht nur immer wieder Ragtime-Klänge einstreut, sondern geschickt aus dem reichen Fundus der Musicalgenres schöpft: Tolle, rhythmisch perfekte Tanzeinlagen (Choreographie Melissa King), vielseitig eingesetzte Chorszenen (Einstudierung Erna Pierini) und vor allem ein hervorragendes Sängerensemble sorgen – unter der dynamischen Leitung von Tom Bitterlich am Pult des Brucknerorchester Linz für einen mitreißenden Abend. Nach der Pause gibt es musikalisch allerdings ein paar Durchhänger, da klingen manche Songs (Gesangstexte von Lynn Ahrens, deutsche Übersetzung von Roman Hinze) nach allzu gewohnter Musicalkost.

Mit Gino Emnes als eindrucksvoller Coalhouse Walker und Myrthes Monteiro als Sarah hat das Landestheater zwei international bewährte Musicalstars ins Haus geholt, die es verstehen, das Publikum mitzureißen. Hervorragend auch die Leistung von Daniela Dett als berührende Mutter, die sich in ihrer sozial empathischen Haltung nicht von ihrem Mann (Carsten Lepper), der ihr Engagement missbilligend zur Kenntnis nimmt, beirren lässt. Stark auch Riccardo Greco als Tate, der trotz Anfangsschwierigkeiten an den amerikanischen Traum festhält und damit Recht behält.  Besondere Erwähnung verdienen noch Ariana Schirasi-Fard als anarchistische Agitatorin Emma Goldmann und Hanna Kastner als femme fatale Evelyn Nesbit.

Ragtime, 1996 in Toronto uraufgeführt und danach ein vielfach preisgekrönter Hit am Broadway, bleibt eine inszenatorische Herausforderung. Linz hat sich – nach Graz vor einem Jahr – darauf eingelassen, das Ergebnis ist mehr als zufriedenstellend. Wer wagt, gewinnt. Auch neue Zuschauer. Denn das Thema bleibt brandaktuell: Einwanderung, Chancen und Probleme der Integration, soziale Spannungen, Angst und Zuversicht, Streben nach Gerechtigkeit, Liebe und Hass.

Vorstellungen noch bis Juni.

Manfred A. Schmid

 

 

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