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LINZ / Musiktheater: NATASCHA, PIERRE UND DER KOMET VON 1812

22.02.2023 | Allgemein, Operette/Musical
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Karsten Kenzel (Balaga) und Ensemble. Alle Fotos; Landestheater Linz / Reinhard Winkler

LINZ / Musiktheater: NATASCHA, PIERRE UND DER GROSSE KOMET VON 18121

21. Feber 2023 (Premiere war am 11.2.2023)

Von Manfred A. Schmid

Mit der europäischen (und deutschsprachigen) Erstaufführung von Natasha, Pierre, und der große Komet von 1812 ist der Musical-Sparte des Linzer Landestheaters erneut ein Coup gelungen. Das Musical von Dave Malloy (Text und Musik), das am Broadway erfolgreich gelaufen ist, gilt Musical-Kennern als Bereicherung und Erneuerung des Genres und wird oft mit dem Musical Hamilton verglichen. Das durchkomponierte Werk könnte durchaus auch, wie sein Schöpfer Malloy gemeint hat, als „Elektropop-Oper“ durchgehen, auch „Eklektische Pop-Oper“ wäre möglich, denn der hier anzutreffende Stilmix ist beachtlich und reicht von electronic dance music, Pop und typischem Broadway-Sound bis hin zu romantischen Balladen und packenden Tanzrhythmen. Natürlich gibt es, die Handlung spielt in Moskau am Vorabend des Einmarsches Napoleons in Russland, viele russische Einlagen, aber auch Klezmer-Anklänge und sogar Passagen, die an minimal music à la Philip Glass sowie an Arnold Schönberg oder Puccini erinnern. Die Mischung ist originell, die einzelnen Stücke, für sich genommen, weniger. Aber mit ostinaten Akkorden am Klavier und insgesamt wirkungsvoller Instrumentation gelingt es Malloy, die abwechslungsreiche, wenn auch nicht sehr substanzielle Kost schwungvoll und fulminant zu servieren, so dass das Publikum mitgerissen wird und ein spektakuläres musikalisches wie auch darstellerisches Feuerwerk erlebt. An allen Ecken und Enden tut sich was, alles ist stets in Bewegung. Man hat fast nicht genug Augen und zu wenig Ohren, um alles mitzukriegen. Am Schluss aber bleibt, wie es bei einem Feuerwerk der Fall ist, wenig übrig. Wenig, das haften bleibt. Wenig Nachhaltiges. Die Blitze und Leichtkaskaden sind weg und der Nachthimmel wieder leer. Doch da kommt, ein glänzender Einfall Malloys, spät aber doch, der im Titel angekündigte „Komet von 1812“ ins Spiel…

Es ist weniger der Inhalt, sondern vielmehr die Aufmachung, die den Erfolg des Musicals ausmacht. Das mag auch der Grund sein, weshalb dieses Musical, 2012 erstmals vorgestellt und 2016 am Broadway herausgebracht, bisher kaum auf anderen Bühnen nachgespielt worden ist. Der erforderliche künstlerische und logistische Aufwand mag abschreckend sein.

Die Handlung, einer rund 70-seitigen Episode in Leo Tolstois monumentalem, gut 2000 Seiten umfassenden Roman Krieg und Frieden entnommen, ist eher schlicht und simpel. Natascha, ein junges, naives Mädchen, mit Andrej verlobt, der allerdings, wie es wiederholt heißt, „nicht hier ist“, weil er als Soldat im Kriegseinsatz steht, kommt in die große Stadt, wird in das mondäne Gesellschaftsleben eingeführt und erliegt prompt den Verführungskünsten Anatols, eines gewissenlosen Filous. Eine von ihm geplante Entführung scheitert, weil ihre Patentante Marja eingreift, um die Familienehre und die ihrer Nichte zu retten. Wie es mit Natascha, weitergeht, bleibt offen. Ihr Freund Pierre spricht ihr jedenfalls Trost zu. Die harsche Kritik Tolstois an der dekadenten Gesellschaft ist weitgehend ausgeblendet, was auch daran liegt, dass die Charaktere eher oberflächlich gezeichnet sind.

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Sanne Mielo (Marja) und Hanna Kastner (Natascha)

Angesichts dieser Ausgangslage ist die Präsentation entscheidend. Die leichtgewichtige Windbäckerei muss mit viel Trara aufgetischt werden. Dass neue Zauberwort für diese Art von Unterhaltung ist „immersives Theater“, die Einbeziehung des Publikums in die Handlung. Die Bühne im Linzer Musiktheater wird auf einer Seite weit in den Zuschauerraum verlängert, die separierte erste Publikumsreihe findet sich  überhaupt schon in die Bühne integriert. Die Akteure marschieren rechts und links an den Zuschauern vorbei auf die Bühne und auch wieder ab. Das ist zwar nur eine Minimalversion des „immersiven Theaters“ wie es am Broadway für dieses Musical dargeboten wurde, wo ein Theater für rund 1400 gänzlich umgebaut werden musste und es auf der Bühne Tische und Sessel für Publikumsgruppen gab. Doch die Bühne von Andrew D. Edwards, von dem auch die leicht geschürzten Kostüme stammen, ist schon ein Wunderwerk, mit ihren vielen Laufstegen und Ebenen. Ganz oben ist das Klavier, von dem aus der musikalische Leiter Tom Bitterlich die dahinter postierten Instrumentalisten dirigiert. Es gibt aber auch ambulante Bühnen-Musikerinnen und -Musiker, die sich mit ihren Streichinstrumenten, Gitarren und Ziehharmonikas und einer Klarinette unters Volk mischen, mitspielen und mittanzen. Die Koordinationskraft Bitterlichs bei all diese musikalischen Parallelaktionen ist durchaus beachtenswert und klappt großartig.

Diese ausufernde Bühne wird von Matthias Davids, dem für die Inszenierung verantwortlichen, langjährigen Chef des Linzer Musicalsparte – in kongenialer Zusammenarbeit mit der bewährten Choreografin Kim Duddy – hervorragend ausgenützt. Tatsächlich wird so gut wie jeder Quadratzentimeter bespielt. Zuweilen ergeht es einem in diesem Theater wie beim Lesen russischer Romane, ob nun von Tolstoi oder Dostojewski: Man verliert leicht den Überblick und braucht einen Zettel, auf dem man alle wichtigen Namen notiert hat. Mit Augenzwinkern und nicht ohne Ironie geht Malloy schon in der Einleitung auf dieses Problem ein und lässt in der Eröffnungsnummer Pierre die handelnden Personen kurz und einprägsam vorstellen. Hilfreich ist da auch der eigentümliche Umstand, dass die Personen manchmal auch über sich in dritter Person berichten und dabei ihren jeweiligen Namen sagen.

Gesungen und gespielt wird ausgezeichnet. Das Niveau der Musicalsparte des Linzer Landestheaters ist beeindruckend und in Österreich ziemlich einzigartig. Hanna Kastner ist eine gute Besetzung für die blauäugige, unerfahrene und naive Natascha, Gernot Romic als Anatol ein selbstverliebter, eitler Casanova und Lukas Sandmann dessen Freund und Helfershelfer. Als Nataschas beste Freundin Sonja kümmert sich Judith Jandl um ihr Wohl und zeigt von ihrem Leichtsinn sehr betroffen.anna Kastner ist eine

Sanne Mieloo ist die um den Ruf der Familie besorgte Patentante Marja, Daniela Dett spielt die verführerische femme fatale Hélène, die zwar verheiratet ist, sich aber darob in ihrem Lebensstil wenig schert. Ihr unglücklicher, etwas schrullige Mann Pierre ist am Beginn eine gescheiterte Existenz und dem Alkohol zugetan, als gesellschaftlicher Außenseiter hält er sich meist auf der obersten Ebene beim Klavier auf und sieht auf das Treiben hinunter. Christian Fröhlich ist der eigentliche Mittelpunkt der Handlung, singt und spielt nicht nur vortrefflich, sondern begleitet sich selbst am Klavier und spielt auch das Akkordeon. Eine imponierende Leistung und von starker, gewinnender Ausstrahlung, so dass man sich freut, wenn es Pierre allmählich gelingt, seinem Leben wieder Sinn zu geben.

Das Klischee eines kauzigen russischen Kutschers stellt Karsten Kenzel auf die Bühne, Celina dos Santos ist gleich mit drei Rollen betraut: als von ihrem greisen, starsinnigen Vater Bolkonski (Joel Parnis) schikanierte und missbrauchte Tochter Mascha, als Opernsängerin und als Magd. Auch Joel Parnis hat als Andrej, der zur rechten Zeit nie hier war, sowie als Opernsänger zwei weitere Rollen zu übernehmen. Schier unbändige Spielfreude und großes Können strahlt aber das ganze Ensemble aus.

Da es bei diesem durchkomponierten Musical während der Aufführung kaum Möglichkeiten für Applaus gibt, fällt der Schlussapplaus umso größer aus. Das Feuerwerk hat beindruckt. Der Komet hell geleuchtet. Ob er alsbald verglüht? – Am Anfang werden die Zuschauer von Chor aufgefordert: „Lest Tolstoi!“  Gar nicht so wenigen im Linzer Publikum ist das durchaus zuzutrauen.

 

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