Linz: „SCHWANENSEE“ – Premiere am Musiktheater des Landestheaters, Großer Saal, 23. 04.2022
Choreographie Chris Haring und das Ensemble, Musik von Pjotr Iljitsch Tschaikowsky
Foto: Michael Loizenbauer
Dieser so ziemlich größte Klassiker der Ballettliteratur stand schon in der Saison 2015/2016 auf dem Programm des neuen Linzer Musiktheater. Damals wurde nach einer Choreographie und Handlung von Mei Hong Lin ein Tanztheater über das Leben des Komponisten aufgeführt, in der der „schwarze Schwan“ die negativen Einflüsse auf Tschaikowsky verkörperte.
Die Idee der aktuellen Produktion lt. website des Landestheaters: „Chris Haring hält den Körpern gebrochene Spiegel vor. Sein Spiel mit Sein und Schein, sein Umgang mit Spiegelbildern und Trugbildern lotet das Fremde im Eigenen und das Technische im Natürlichen aus. Es entfaltet sich im Illusionsraum der Linzer Theatermaschine und legt zugleich dessen Bestandteile frei. Diese postromantische Schwanensee-Version zeigt statt tanzender Schwäne und schmachtender Prinzen ein Verfließen, ein Werden der Gesten und Sprachen, das ins Unbestimmte, Transitorische des Menschen weist.“ Als Inspirationsquelle für die bildlichen Effekte werden im Programmheft Jheronimus Bosch und Giotto genannt; wir möchten hinzufügen, auch Dali und Henry Moore fallen ins Auge, die natürlich teils auch aus den selben Quellen geschöpft haben.
Schon obige Produktionsbeschreibung ist nicht leicht aufzulösen – wenn denn überhaupt. Vieles bleibt dann auch auf der Bühne – konsequenterweise – kryptisch. Die Darstellerinnen und Darsteller schlüpfen auch im fliegenden Wechsel in verschiedenste Rollen. Über weite Passagen „geht“ es auch recht statisch zu, wobei freilich zu bewundern ist, wie perfekt sich die Tänzerinnen und Tänzer in mitunter ausgesprochen extremen Positionen über gefühlte Minuten perfekt still halten können.
Foto: Michael Loizenbauer
Die Kostüme sind überwiegend in Grau- und Beigetönen gehaltene Trikots, auch oft nur entsprechende Unterwäsche, die einen Nacktheitseffekt erzeugt. Andererseits werden immer wieder kleinere und größere Kleidungsaccesoires aus bunten, meist durchscheinenden Trikotstoffen übergezogen und in bizarrer Weise verformt; HH muß gestehen, daß ihn das an eine Teufelei aus seiner Kindheit erinnert hat, als er einen Pullover halb über den Kopf zog, das Gesicht von der Halsöffnung umrahmt, und er als schulterloser „Marsmensch“ durchs Haus tobte – nicht gerade zur Begeisterung von Mutter oder Großmutter, die den Pullover gestrickt hatten…
Vorerst einziger deutlicher Farbakzent ist ein rotes Kleid, das anscheinend Odile symbolisieren soll, egal, wer es gerade trägt. Aber auch diese Farbe wird später zur allgemeinen Tracht, bevor gegen Schluß doch auch je eine markante schwarze und weiße Figur auftreten. Schlußendlich sehen wir auch – als einzige merkliche, jedenfalls aber nicht sehr ambitionierte Inanspruchname der „Linzer Theatermaschine“ außer der mitunter langsam bewegten Drehbühne – einen schwarzen und einen weißen Schwan von Bühnenhöhe in Steppdeckengestalt. Wir erinnern hier nicht an einen Spruch von Max Merkel zu diesem Material, sicher nicht!!
Die Bühne ist meist leer, zeigt so die gewaltigen Ausmaße des Hauses. Im Hintergrund einige „australische“ Kulissenteile aus „Priscilla“, mitunter wird eine weiße Projektionsfläche herabgelassen, auf der bearbeitete Großaufnahmen der Bühnenpersonen gezeigt werden.
Weiters beteiligt an der Gestaltung dieser Produktion sind dramaturgisch Roma Janus, sodann Stephanie Cumming (Choreografische Assistenz), Anouk Lamm Anouk (Set Design / Kunst), Stefan Röhrle (Kostüme), Videodesign Michael Loizenbauer, sowie Lichtkonzept und Szenografie von Thomas Jelinek. Das Sounddesign von Andreas Berger beinhaltet dunkel gefärbte soundwalls, die zuerst zwischen die Musikstücke eingelagert sind, später – und das ist dann wirklich spannend und auch szenisch wie stimmungsmäßig überzeugend! – auch ein Echo des soeben gehörten Orchesterklanges darstellen, mit quasi psychedelischen Weiterungen…
Kleine Schwäne. Foto: Michael Loizenbauer
Aber auch einen wirklich faszinierenden, dabei durchaus humorvollen tänzerischen Moment muß man erwähnen: der „Tanz der kleinen Schwäne“ im 2. Akt läuft orchestral mit aller gebotener Finesse ab, während auf der Bühne eher wenig passiert. Dann setzt eines der elektronischen Zwischenspiele ein – und plötzlich formt sich ein Quartett von drei Damen und einem Herrn, klassisch verbunden mit verschränkten Armen, und tanzt, in exaktestem Rhythmus, ohne musikalische Taktgebung, im saubersten Spitzentanz ohne Schuhe, diese berühmte Stelle, wohl in der altbekannten Choreographie von Petipa/Iwanow! (Szenenapplaus).
Auf der Bühne sehen wir, allesamt konzentriert, präzise, immer in Spannung, selbstentäußert Elena Sofia Bisci, Shao Yang Hsieh, Angelica Mattiazzi, Casper Mott, Katherina Nakui, Pavel Povrazník, Albert Carol Perdiguer, Lorenzo Ruta, Arthur Samuel Sicilia, Nicole Stroh, Hanna Szychowicz, Pedro Tayette und Fleur Wijsman.
Marc Reibel und das Orchester. Foto: Michael Loizenbauer
Faszinierend die Leistung des Bruckner Orchesters unter Marc Reibel: absolute Präzision, Eleganz, ein himmlischer Klang, gerade auch vom Blech, die seidigen Streicher und Holzbläser sowieso. Organische Tempowahl und exzellente Balance zwischen den Gruppen sowieso. Als Solisten brillieren besonders (soweit namentlich zuzuordnen) Tomasz Liebig, Violine, Werner Karlinger an der Harfe und Markus Eder, Trompete; auch die Dame oder der Herr am Solo-Violocello sei hervorgehoben! Im dritten Akt fährt das Orchester fast auf Bühnenniveau hoch – was dahinter abläuft, ist angesichts dieses meisterlichen Ensembles ohnedies weniger interessant.
Jubel für Dirigent und Orchester, begeisterter Applaus für Tänzerinnen und Tänzer. Fürs Produktionsteam war die Zustimmung nicht ganz ungeteilt.
Petra und Helmut Huber