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LINZ/ Musiktheater des Landestheaters: BILDER EINER AUSSTELLUNG. Tanzabend von Mei Hong Lin

Musik von Modest Mussorgski, Sound von randomhype


Kayla May Corbin, Shang-Jen Yuan. Foto: Laurent Ziegler/ Linzer Landestheater

Linz: „BILDER  EINER AUSSTELLUNG“ – Musiktheater des Landestheaters, Großer Saal, 30. 09. 2020; zweite Aufführung

Tanzabend von Mei Hong Lin, Musik von Modest Mussorgski, Sound von randomhype

„Картинки с выставки“ – „Kartinki s wystawki“ lautet der Originaltitel des Klavierzyklus von Modest Petrowitsch Mussorgski, in dem er sich an einen malenden Freund namens Viktor Hartmann erinnert. Dieser war 1874 gestorben, und der Komponist ließ sich durch eine Gedächtnisausstellung inspirieren. Inwieweit die Titelfolge auf tatsächlich damals ausgestellten Werken beruht, läßt sich heute nicht mehr sagen; jedenfalls sind von Hartmann einige Blätter mit passenden Werken erhalten geblieben, u. a. das Tor von Kiew, die ungeschlüpfen (Ballett-)Küken und die Hütte der Hexe Baba-Jaga.

Die Musik ist den meisten allerdings nicht in der ursprünglichen Klavierfassung geläufig, sondern in einer – vielleicht etwas weichgespülten – Orchestrierung von Maurice Ravel. Ob schon der Komponist an solch eine Fassung dachte, ist nicht bekannt, nicht einmal, ob er überhaupt wußte, daß sein Mitbruder im „Mächtigen Häuflein“ Nikolai Rimski-Korsakow schon so einen Schritt gesetzt hatte. Besonders wuchtige und ausufernde Fassungen gibt es von Sir Henry Wood, dem Begründer der Londoner Promenadenkonzerte, und von Leopold Stokowski. Auch Giuseppe Becce, der wohl meistbeschäftigte Filmkomponist der Zwischenkriegszeit, nahm sich des Werkes an – für ein Salonorchester!

Die Leiterin von TanzLinZ sowie Choreografin und Regisseuse des einstündigen Abends, Mei Hong Lin, wollte aber das durchaus ruppige und kantige Werk auf sein wahres Wesen zurückführen; lediglich einen elektronischen Kommentar oder Kontrapunkt durch DJ RANDOMHYPE (der gebürtige Regensburger Christian Düchtel) wollte sie zulassen. So steht links am Proszenium ein Stutzflügel, an dem Stefanos Vasileiadis das Mussorgski’sche Original rauschen und tanzen und tirilieren läßt, während gegenüber der DJ seine Synthesizer – nobel hinter schwarzem Tuch versteckt – bedient.


Kayla May Corbin, Valerio Iurato. Laurent Ziegler/ Linzer Landestheater

Wenn man, gerade beim Erklingen der Originalfassung, das Entstehungsjahr mitdenkt, ist man oft genug verblüfft, wie weit diese Musik „vorauskomponiert“ ist: immer wieder hört man da Zeiten NACH Debussy oder Satie. Trotz Verstärkung freilich klänge das Klavier mit diesem Material im Großen Saal manchmal etwas verloren. Aber genau da setzt der Elektronikmusiker ein: manchmal wird leise musique concrète eingesetzt, manchmal übernimmt der Synthesizer einen machvollen tief fundierten Orchesterpart, wie er von Henry Wood nicht effektvoller stammen könnte. Das fügt sich recht gut zusammen – nur anfänglich, beim „Gnom“ wirkt das vorübergehend allzu glatt; später aber ist das, auch in Hinblick auf das Bühnengeschehen, eine stimmige und stilsichere Ergänzung, nein, Erweiterung.

Bühne und Kostüme: Julio Andrés Escudero; der Orchestergraben ist abgedeckt – haben wir dieses weiße Quadrat nicht schon bei der Schoeck’schen „Penthesilea“ gesehen? Auch die Kostüme zitieren teils frühere Produktionen, aber ebenso wie das Bühnenarrangement (mit akzentuierendem Lichtdesign von Johann Hofbauer) passend zum Aufführungskonzept. Und dieses holt – oft abseits des Namens der Einzeltitel, aber tief in der musikalischen Emotionswelt der Stücke verwurzelt – Zwischenmenschliches in all seinen Facetten auf die Bühne. Dramaturgie (und Einführungsvortrag auf der Bühne): Roma Janus.

Weil dieses Konzept in Zeiten des Corona-lockdown ersonnen wurde, spielen auch Distanz und vergebliche Suche nach Beziehung sowie Machtlosigkeit und Verluste wichtige Rollen. Im übertragenen wie unmittelbaren Sinne: die Tänzerinnen und Tänzer berühren einander nie, bleiben, dramaturgisch gut begründet, einander fern. Bis auf das letzte Stück, das „Große Tor von Kiew“: hier tanzt ein (reales) Paar, die „dürfen“ Nähe auch zeigen – nur leider mit theatralisch fatalem Ausgang (harmonisch, bewegend: Kayla May Corbin, Valerio Iurato).


Shang-Jen Yuan. Foto: Laurent Ziegler/ Linzer Landestheater

Das gesamte Ensemble bekommt, Episode für Episode, Solo-Chancen und kann zeigen, wie exzellent jede einzelne Person ihren Körper beherrscht, wie intensiv jeder und jede Emotionen ins Publikum übertragen kann – und wie gut sie alle interagieren: Lara Bonnel Almonem, Rie Akiyama, Julie Endo, Núria Giménez Villarroya und Mireia González Fernández als zwei sehr unterschiedliche und doch einander nahe Frauen (zu „Samuel und Schmuyle“), Shao-Yang Hsieh, Yu-Teng Huang, Vincenzo Rosario Minervini, Nimrod Poles, Geoffroy Poplawski, Pavel Povrazník (der im unterdrückten „Gnom“ seine großartige Rolle als Zwerg im „Geburtstag der Infantin“ von Wilde und Schreker wieder aufnimmt, aber auch als mißtrauischer König überzeugt – eine gelungen boshafte Idee zu den „Küken in den Eierschalen“), Lorenzo Ruta, Safira Santana Sacramento, Nicole Stroh, Pedro Tayette, Shang-Jen Yuan (bitte, hat der Flügel??) und Evi van Wieren.


Safira Santana Sacramento. Laurent Ziegler/ Linzer Landestheater

Die einfache, studioartige Bühnengestaltung wurde dazu genutzt, auch Zuschauerplätze im Bühnenhintergrund unterzubringen. Unter Maßgabe der Coronaproblematik war der Besuch gut. Und die Besucher spendeten begeisterten Applaus für das Tanz-team und die Musiker.

Petra und Helmut Huber

 

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