Linz: „Wiener Blut“ – Premiere im Musiktheater des Landestheaters Linz, Großer Saal, 25. 10.2025
Operette in drei Akten von Viktor Léon und Leo Stein, Musik von Johann Strauß d. J., musikalische Bearbeitung und Zusammenstellung von Adolf Müller jun.

Bernhard Walchshofer. Foto: Barbara Palffy
Zum 200. Geburtstag des „Walzerkönigs“ (ebenso Gründungsmonarch der Wiener Operette) hat heute ein Werk Premiere, das eigentlich … NICHT von Strauss ist. „Gerechterweise“, schrieb Helmut Reichenauer 2011, „müsste es also heißen: ‚Wiener Blut‘, Operette von Adolf Müller nach Motiven Strauss’scher Werke.“ Das Werk, das Strauss zwar autorisiert hatte, aber vom kunstreichen und geschickten Musiker und Musikdramatiker TadW-Kapellmeister Müller aus der riesigen Fülle Strauss‘scher Melodien destilliert worden war, wurde „reverse engineered“: denn auch die – ebenso beruflich höchst ausgefeilten – Librettisten hatten den Auftrag, auf ebendieses Melodienpotpourri eine passende Geschichte (aus der Zeit des Wiener Kongresses 1815) und für die Melodien geeignete Texte zu verfassen; 45 Motive aus 31 Werken fanden lt. vorgenanntem Autor schließlich Eingang in die Partitur. Ausgangspunkt war ein Walzer aus dem Jahr 1873, der seinen Titel von einem kurz zuvor erschienenen früh- soziologischen Buch „Wiener Blut: Kleine Culturbilder aus dem Volksleben der alten Kaiserstadt“ des Feuilletonisten Friedrich Schlögl bezogen hatte, das sozusagen einen „Volksadel“ in dieser Stadt postulierte. Und: das Vorgehen von Müller, Léon und Stein wurde zum Baumuster einer ganzen Reihe von späteren Operettenwerken, auch in der Musicalwelt findet man bis heute Ähnliches. Doch die Uraufführung am Carltheater belohnte den großen Aufwand nicht, und wahrscheinlich trug dieser Mißerfolg sogar zum Selbstmord von Direktor Franz von Jauner fünf Monate später bei.
Zum ersten Mal in Linz erklang das Werk gut 1 Jahr nach der Uraufführung, nämlich am Dreikönigstag des Jahres 1901. Bislang gab es hier 15 Produktionen, die letzte liegt allerdings schon 35 Jahre zurück. Die aktuelle Inszenierung von Bad-Ischl-Intendant Thomas Enzinger setzt neue Akzente, insbesondere, indem er die Rolle des Kagler zu einem Conférencier ausbaute, der szenische Präsenz als politischer Satiriker erhielt – ganz im ursprünglichen Sinne der Gattung Operette. Das Produktionsteam bediente sich dabei auch gründlich aus Texten von Nestroy bis Horváth (Dramaturgie: Anna Maria Jurisch). Es gibt sehr viel Sprechtext, der von den Gesangssolistinnen und -solisten aber auch schauspielerisch erstklassig, nämlich pointensicher und textdeutlich (an diesen Stellen mit Mikrophonstütze) gebracht wird – alles sehr temporeich und ziemlich weit weg von Klischees, dabei unaufdringlich „heutig“.
Die quirlige Choreografie (Evamaria Mayer) schließt nicht nur das brillante Oktett von TanzLinz ein (Andrea Aguado Campo, Sofia Bisci, Ilia Dergousoff, Mischa Alexander Hall, Katharina Illnar, Angelica Mattiazzi, S. Arthur Sicilia, Pavel Povrazník), das vielfältige szenische Akzente setzt, aber auch höchst treffsicher als Illustration der Satiretexte des Kagler in Umbaupausen auftritt. Choreographisch anspruchsvoll sind bisweilen auch die Chorauftritte, und sogar eine Gesangssolistin fällt diesbezüglich auf.
Die Kostüme von Götz Lanzelot Fischer sind einerseits klar der Handlungszeit zugeordnet, weisen aber andererseits eine Unzahl, meist subtiler, schlauer und humorvoller Anachronismen auf, die wiederum einer satirischen Vielschichtigkeit verpflichtet sind. Besonders wirkungsvoll entworfen ist die Parade der Sünden der EU. Ulrich Leitner schafft eine mit stilsicheren Akzenten die Phantasie des Publikums anregende, oft richtig Theatermagie ausstrahlende Bühne, unterstützt durch die Lichtführung von Johann Hofbauer – insgesamt ergibt sich ein prachtvolles wie hintergründig humorvolles Bild mit vielen witzigen Details. Man muß schon zweimal hinsehen, um auch Franz Schubert und Sigmund Freud beim finalen „Ramasuri“ in Hietzing zu finden – und letzterer zeigt dabei noch dazu überraschende Neigungen…

Thomas Mraz. Foto: Barbara Palffy
Der Karussellbesitzer Kagler, der nicht nur oftmals die Protagonisten durcheinanderwürfelt, sondern auch einige kabarettistische Passagen sehr treffsicher präsentiert, ist der Gast Thomas Mraz – diesmal deutlich besser eingesetzt als in der vorletzten Saison als Frosch. Er mag biedermeierlicher Bürger sein, aber steckt voll Ambitionen – vielleicht wird er sogar einmal ein Riesenrad in Wien aufbauen? Dieser Kagler hat wohl auch andere Seiten, und H. C. Artmanns „ringlgschbüübsizza“ liegt womöglich näher als einem lieb ist… Sein musikalischer Partner ist ein goldener Schani Strauss, von seinem Stadtpark-Monument herabgestiegen, dem der ehemalige Solocellist des Bruckner Orchesters, Bernhard Walchshofer, mit seinem Akkordeon Leben verleiht; schon vor Beginn der Vorstellung unterhält der Vollblutmusikant das hereinströmende Publikum im Foyer.

Matjaž Stopinšek. Foto: Barbara Palffy
Fürst Ypsheim-Gindelbach, Premierminister von Reuß-Schleiz-Greiz ist ebenfalls ein Gast: Hans Gröning – vorzüglicher Baßbuffo und höchst unterhaltsamer Schauspieler! Die Tenorrolle des Grafen Zedlau, Ypsheims Gesandten, ist Ensemblemitglied Matjaž Stopinšek übertragen, der mit Schmelz, Höhensicherheit und ebenfalls sehenswertem Schauspiel begeistert. Seine Frau Gabriele erhält von Carina Tybjerg Madsen Humor, Charakter und samtige wie saalfüllende Stimme – auch sie eine würdige Hauptfigur.

Carina Tybjerg Madsen, Matjaž Stopinšek . Foto: Barbara Palffy
Kärntnertortheater-Tänzerin Demoiselle Franziska Cagliari (najaaaa, eigentlich Kagler…) ist die Absolventin unseres Opernstudios Tina Josephine Jaeger: beweglicher, kraftvoller, gleichwohl beweglicher Soubretten-Sopran, lustvolles Schauspiel. Die zweite Soubrettenrolle, die Probiermamsell Pepi Pleininger, übernahm Marie-Luise Engel a. G.; auch sie stimmlich vorzüglich, ebenso als Komödiantin (dabei hat sie dazu einige wirklich schräge Töne abseits des klassischen Gesanges zu absolvieren) – und krönt ihren ersten Auftritt noch mit einem perfekt ausgeführten Radschlag! Ihr Gegenüber ist Josef, Kammerdiener des Grafen Zedlau, mit dem Tenorbuffo des Hauses, Jonathan Hartzendorf, auf ebenso erstklassigem Niveau besetzt, stimmlich wie als unterhaltsamer Schauspieler mit großem körperlichen Einsatz bis ins slapstick-Fach.

Matjaz Stopinsek, Jonathan Hartzendorf. Foto: Barbara Palffy
Markus Raab ist ein eindrucksvoll unzufriedener Kutscher wie würdiger Graf Bitowski, Jovana Rogulja die Festwirtin in Hietzing.

Tanz-Szene. Foto: Barbara Palffy
Der Landestheater-Chor (Elena Pierini) und Statisterie machen ihre Sache(n) wie gewohnt exzellent, schauspielerisch wie stimmlich, und das Bruckner Orchester spielt unter dem (bei weitem nicht „nur“ Operetten-Spezialisten) Marc Reibel samtig, wienerisch-tänzerisch, nichtsdestoweniger präzise und einfach großartig.
Begeisterung, standing ovation für alle – und ganz zum Schluß, nach brutto 3 Stunden Aufführungsdauer und 10 Minuten Applaus noch einmal, bei aufblendendem Saallicht, eine große Walzerszene auf der Bühne.

Schlussvorhang Ensemble. Foto: Petra und Helmut Huber

Premierenfeier mit Intendant Hermann Schneider, Marc Reibel, Elena Pierini, Thomas Enzinger, Evamaria Mayer, Götz Lanzelot Fischer, Ulrich Leitner, Johann Hofbauer. Foto: Petra und Helmut Huber
Petra und Helmut Huber

