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LINZ/ Landestheater/ Schauspielhaus: „DER HASE MIT DEN BERNSTEINAUGEN“ – Musical von Henry Mason & Thomas Zaufke. Uraufführung

07.04.2019 | Allgemein, Operette/Musical


Foto: Reinhard Winkler/ Landestheater

Linz: „DER HASE MIT DEN BERNSTEINAUGEN“ – Uraufführung am Schauspielhaus des Landestheaters, 06. 04.2019

Musical von Henry Mason (Buch und Gesangstexte) und Thomas Zaufke (Musik) nach dem Buch „The Hare with Amber Eyes. A Hidden Inheritance“ von Edmund de Waal; Orchestrierung Markus Syperek

Eines der stattlichsten Gebäude an der Wiener Ringstraße ist das an der Ecke Ring/Schottengasse und damit gegenüber der Universität gelegene Palais Ephrussi. Die ursprüngliche Bestimmung des Gebäudes war Wohnung und Bankzentrale der aus Odessa zugewanderten Familie Ephrussi, die in Weizen und Öl reich geworden war. Ähnlich den schon länger in Wien tätigen Rothschilds, auf die das in der Schottengasse gegenüber stehende Creditanstaltsgebäude zurückgeht, wurde auch durch Ignaz von Ephrussi das Bankgeschäft internationalisiert; so entstand auch eine Pariser Bank Ephrussi, deren Leiter Ignaz’ jüngere Brüder Moritz/Maurice und Charles waren.

Letzterer interessierte sich – wir sind in der Ära des Impressionismus! – auch sehr für moderne Kunst, unterstützte Künstler wie Renoir und Degas und legte eine große Bildergalerie an. Im Zuge des „Japonismus“ des späten 19. Jahrhunderts kam er auch an eine Sammlung von Kleinkunst, die in Japan als Teil der Kleidung dient: kleine, äußerst vielfältig gestaltete Objekte zur Befestigung verschiedener Utensilien am Gürtel (obi), genannt Netsuke [netske]. Diese Alltagsgegenstände erfuhren im Laufe der Zeit eine gewaltige Wertsteigerung und werden als Sammlerobjekte natürlich auch klassifiziert: von katabori (klein, rund) über ryusa (durchbrochene Knöpfe) bis karakuri (bewegliche Teile oder versteckter Inhalt) werden mindestens acht Gruppen angegeben. 264 Stücke umfaßt die Ephrussi-Sammlung, darunter den 1880 von Meister Masatoshi geschnitzten Hasen aus Elfenbein – ein katabori.
Als Erbe gelangte diese Sammlung schließlich nach Wien ins Palais des Barons Viktor von Ephrussi. 1938 übernahmen die Nazis die Macht. Die Bank und das Haus, das zahlreiche weitere Kunstschätze und eine Raritätenbibliothek enthielt, waren der Familie schnell abgepresst, und die Ephrussis mußten schließlich froh sein, mit dem Leben davonzukommen. Nach dem Krieg erwies es sich für die Erben als überaus schwierig, zumindest Teile des Vermögens zurückzubekommen. Das bombenbeschädigte Palais beispielweise mußte um den Gegenwert von 50.000,- Euro verkauft werden, da im frühen Nachkriegswien der Markt (noch) äußerst bescheiden war. Nur die Netsukesammlung ist unter bemerkenswerten Umständen wieder in die Familie gelangt: nach einem Zwischenaufenthalt in Japan, beim Großonkel des Buchautors, Ignace „Iggie“ von Ephrussi, Modedesigner, der später als Getreidehändler und schließlich als Bankdirektor die Familientradition vollendete, wurde sie an den britischen Keramikkünstler Edmund de Waal, Urgroßneffe von Charles, vererbt.


Henry Mason bei der Premierenfeier. Foto: Petra & Helmut Huber

Das Buch war und ist ein Welterfolg, und somit war es sicher kein einfaches Stück Arbeit, die Bearbeitungsrechte, auch nur alleine für Linz, zu erwerben. Es ist dies die dritte Musical-Auftragsproduktion des Landestheaters. Henry Mason, Sohn eines Landestheater-Urgesteins und beispielsweise im Theater der Jugend oder der Volksoper in Wien tätig, hat sich mit Verve drangemacht, dieses „eigentlich nicht dramatisierbare“ Buch und die komplexen Familienverhältnisse auf Bühnenformat zur destillieren. Eine speziell komplizierte Aufgabe war z. B. die Verteilung mehrerer Rollen auf eine begrenzte Zahl von Akteuren gegenüber den szenischen Notwendigkeiten…
Thomas Zaufke hat mit seinem jungen Arrangeur musikalischen Zeitkolorit – die Handlung spielt zwischen ca. 1870 und heute – in die Komposition einbezogen. Seine Musik ist in den erzählenden, rezitativhaften Teilen nicht ganz frei von heutigen Musicalklischees (etwa: man will wie Sondheim schreiben, ganz gelingt es jedoch nicht). Aber dazwischen liegen, angefangen von einer Klezmer zitierenden, äußerst schwungvollen Ensemblenummer über die Wurzeln der Familie in Odessa und beim Weizen bis zum absichtsvoll verwirrenden „Verhinderungswalzer“ der Wiener Beamtenschaft, wenn es um die Restitution der geraubten Güter geht, jede Menge erfrischender, ja bis ans Geniale gehender Nummern – nicht zu vergessen besonders auch eine swingende Modenschau mit Iggys Strandkreationen oder ein entzückender Cakewalk, als Emmy ihren Kindern Geschichten zu den Netsuke erzählt. Die Choreografie von Francesc Abós ist eine großartige Ergänzung der Handlung!

Henry Mason hat mit seinem Bühnentreatment aus dem 407-Seiten-Buch ein dramaturgisch ausgesprochen gut verständliches und perfekt getimtes Werk geschaffen (dramaturgische Betreuung: Arne Beeker), das nicht nur die komplexen Familienverhältnisse samt wichtigen Seitensträngen klar darstellt, sondern auch die politischen Hintergründe präzise und selbstverständlich einflicht. Darüber hinaus kann man auch seinen Texten nur das allerbeste Zeugnis ausstellen: da sprechen wirkliche Menschen, da ist nichts gekünstelt oder droht im Nichtreimungsfalle gefressen zu werden – das Leben ist überzeugend und dabei eingängig zur Musik eingefangen! Dazu artikulieren ausnahmslos alle Darstellerinnen und Darsteller, von erfahrenen Bühnenveteranen bis zu den jüngsten Kindern (8 Jahre!) perfekt deutlich; Textprojektion gibt es nicht und wird unter diesen Umständen auch keine Sekunde vermisst.

Christopher Mundy leitet, bei perfekter Koordination mit dem Bühnengeschehen, ein präzises und stilsicher spielendes 12-Personen-Orchester, das auf einer Empore im Bühnenhintergrund positioniert ist, welche auch als Fläche für ortsdefinierende Projektionen (Valentin Huber) dient. Die Tonregie schafft trotz der komplexen Raumbedingungen und den oft zahlreichen Personen ein sehr transparentes Bild. Und als in Wien 1938 ein Flugzeug über die Szene fliegt, klingt der Motor (wir sind eifrige Flugshowbesucher…) wie ein Damler-Benz 600er und nicht wie ein Rolls-Royce Merlin oder ein Sternmotor: das war der richtige Griff ins Archiv!


Christoph Messner. Foto: Reinhard Winkler/Landestheater

Bühne und Kostüme hat Jan Meier zu verantworten: erstere sehr reduziert und trotzdem, mit oft nur kleinen Requisiten, ein perfekter und glaubwürdiger Rahmen der jeweiligen Handlung (szenisch unterstrichen vom Licht: Helmut Janacs). Die Kostüme sind prachtvoll in der jeweiligen Epoche gestaltet; nur fragten wir uns, wieso ausgerechnet die Nazihorden, die das Palais plündern, nicht wie SA/SS/Polizei gekleidet waren, sondern eher moderne Gewänder trugen – soll ausgerechnet bei diesen klaren historischen Fakten ein diffuser Gegenwartsbezug hergestellt werden? Jedenfalls: große Leistungen auch von Kostümabteilung und Maske bei den vielen sehr schnellen Umzügen.

Edmund de Waal, der, angeregt vom japanischen Erbe, in die Geschichte immer tiefer eintaucht, weiter hineingezogen wird (nicht immer zur Begeisterung seiner Gattin) und bei vielen historischen Ereignissen als Beobachter auf der Bühne steht: Christof Messner; überzeugend als erstklassig singender und sprechender Darsteller des gestreßten Familienvaters, den seine Familiengeschichte mehr und mehr gefangen nimmt. Besonderes Lob erhielt er auch von seinem Rollenvorbild persönlich! Anaïs Lueken ist seine Partnerin auf Augenhöhe als Gattin Sue und Großmutter Elisabeth von Ephrussi; Sue ist zunehmend genervt von Edmunds Abwesenheit und Elisabeth organisiert die Flucht ihrer Eltern aus Wien; ferner versucht sie, die ihren Sehnsuchtsort gegenüber des Palais, die Universität, besuchte und Anwältin wurde, gegen zähen Widerstand die Rückgabe des Familienvermögens zu erreichen.

William Mason, der von 1982 – 2012 Mitglied des Linzer Opernensembles war, hat als alter Iggie von Ephrussi (und als Edouard Manet) ebenfalls sehr viel Bühnenzeit – er tritt nicht nur im historischen Kontext seiner Rolle auf, sondern auch als imaginierter Ratgeber seines Großneffen und als Kommentator; und singen kann er auch immer noch sehr gut! Ähnlich auch die Rolle des „ersten Kunstsinnigen“ der Familie, Charles Ephrussi (Carsten Lepper): beide bilden zusammen mit Edmund das dramaturgische Gerüst, das die Zusammenhänge der Geschichte in großer Historie, Familiengeschichte und Kunst herstellt. Die wichtigste der vielen Freundinnen Charles‘: Hanna Kastner als Louise Cahen d’Anvers, charmant und zielbewußt.


Anaïs Lueken. Das Bild „Straße in Paris an einem regnerischen Tag“ von Gustave Caillebotte (1877) wird im Hintergrund gezeigt, als Ortsdefinition. Das Bild hängt seit ca. 1920 im Art Institute of Chicago (wo u. a. auch die berühmten US-Werke „Nighthawks“ von Edward Hopper und „American Gothic“ von Grant Wood zu sehen sind). Foto: Reinhard Winkler/ Landestheater

Der letzte der Familie in Wien, der eigentlich lieber mit Archäologie als mit einer Bank zu tun haben wollte, Viktor von Ephrussi, wird nicht nur von Riccardo Greco großartig gespielt und gesungen, sondern sieht auch dem Dargestellten zum Verwechseln ähnlich. Seine Gattin Emmy bekommt durch Myrthes Monteiro sprühendes Leben (samt prachtvoller Stimme) – aber auf der Flucht bricht sie innerlich zusammen und begeht wohl Selbstmord: auch das bewegend von Frau Monteiro verkörpert. Wei-Ken Liao gibt einen alerten Japaner namens Jiro Sugiyama, Lebensgefährte von Iggie, der vieles zum Hintergrund der 264 kleinen Schnitzarbeiten beiträgt.


Carsten Lepper, Ariana Schirasi-Ford, Nikolaus Cerha, Hanna Kastner. Foto: Reinhard Winkler/Landestheater

Die treue Zofe von Emmy, Anna, die unter den Augen der Nazieinquartierung im Palais die Figürchen verschwinden lassen kann und sich nach dem Krieg bei Elisabeth meldet, um sie ihr zurückzugeben: Ariana Schirasi-Fard, auch diesmal wieder mit einer wunderbar ehrlichen und natürlichen Rollengestaltung, die doch so schwierig ist. Der junge Iggie von Ephrussi (sowie Edgar Degas) ist ein quirliger und sprühender Gernot Romic – wie immer als Darsteller restlos überzeugend.

Der französische Schriftsteller, auch als Antisemit auf- und ausfällig, Edmond de Goncourt sowie der Ariseur der Ephrussi-Bank, Steinhäusser, werden vom Schauspielensemble-Mitglied Jan Nikolaus Cerha mit sprachlicher Präzision und wie genau kalkulierter emotioneller Kälte auf die Bühne gestellt. Der Nachzügler (oder Kuckuckskind?) Emmys, Rudolf, und Viktors älterer Bruder Stefan sowie Claude Monet: Florian Stanek mit darstellerischem Engagement und Überzeugungskraft. Renoir/Gestapohauptmann (oder was auch immer): Christian Fröhlich, auch er Vollblutdarsteller wie seine Kollegin Angela Waidmann (Gisela). Die britische Soldatin Ellen, die Elisabeth im Palais nach dem Krieg empfängt: Lynsey Thurgar, natürlich als Muttersprachlerin im Vorteil. Einige der Genannten belegen noch weitere Rollen.

Großartig auch die jugendlichen und Kinderdarsteller, alle aus der Schule von Ursula Wincor: Gabriel Federspieler, René Unger, Matthias Körber, Magdalene Baehr, Elisabeth Baehr.


Ed de Waal bei der Premierenfeier.

Begeisterung, standing ovations für Autoren, Bühnenteam und den Buchautor. Ein großartiges Werk, temporeich, kann die komplexe Geschichte plausibel und spannend erzählen, auch musikalisch weit über Durchschnitt. Für Autoren wie Darsteller war natürlich außer der Begeisterung des Premierenpublikums vor allem der zutiefst bewegte Dank von Edmund de Waal persönlich der schönste Lohn, der natürlich auch besonders „seinem“ Darsteller, Herrn Messner, galt.

Petra und Helmut Huber

 

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