Li Gerhalter
TAGEBÜCHER ALS QUELLEN
Forschungsfelder und Sammlungen seit 1800
In der Reihe L’Homme Schriften: Reihe zur Feministischen Geschichtswissenschaft, Band 27
460 Seiten, Böhlau Verlag, 2021
Bei dem Begriff „Tagebuch“ denkt man wohl zuerst an die großen, berühmten Tagebuchschreiber wie Thomas Mann oder Arthur Schnitzler, die sich und ihr Leben jahrzehntelang penibel dokumentierten. Das ist im doppelten Sinn nicht das Thema von Li Gerhalter in ihrem Buch „Tagebücher als Quellen“ – erstens geht es nicht um die Aufzeichnungen berühmter Menschen, sondern um jene von No-Names, und zweitens sind nicht die Inhalte der Diarien ihr Thema, sondern wie das „Material“ Tagebuch in der Wissenschaft verwendet wurde, voran in der Psychologie, besonders in der Kinderpsychologie, aber auch in der Geschichte oder der Soziologie.
Li Gerhalter, heute stellvertretende Leiterin der Sammlung Frauennachlässe am Institut für Geschichte der Universität Wien, hat das Thema 2017 für ihre Dissertation als Historikerin vorgelegt. Die erweiterte Form ist nun in der Reihe „L’Homme Schriften: Reihe zur Feministischen Geschichtswissenschaft“ als Band 27 erschienen. Es ist eine strikt wissenschaftliche Arbeit, die allerdings für den „Normalleser“ viele Aspekte birgt, die von breiterem Interesse sind.
Es geht um persönliche Quellen von „Normalmenschen“, die nicht im Fokus der Öffentlichkeit standen und gerade deshalb spätestens seit dem 19. Jahrhundert als wissenschaftliche Quellen heran gezogen werden. Wobei der Begriff der persönlichen Aufzeichnung weit gespannt wird – und das Buch über die historische Aufarbeitung auch am Ende in die Gegenwart führt, wo das „Persönliche“ auch der Nicht-Berühmten ja durch die Sozialen Medien Allgemeingut geworden ist. „Corona“ hat die Suche nach dem persönlichen Dokument noch angeheizt, Institutionen fragen nach Corona-Erlebnisberichten, Corona-Tagebüchern, das Wien Museum stellt Corona-Objekte aus. Das Thema überflutet die Gegenwart.
Li Gerhalter folgt in ihrem Buch der Forschung. Frühe Tagebuchaufzeichnungen finden sich unter den „Elterntagebüchern“, wo Eltern die Fortschritte der eigenen Kinder notierten. Das gab es bereits ab dem 17. Jahrhundert für Fürstenkinder, Wissenschaftler nahmen oft die eigenen Kinder auch als Forschungsobjekt (wobei die Fragwürdigkeit dieser Haltung durchaus zu diskutieren ist). Die Zeitgeschichte benutzt die Tagebücher als historische Dokumente (worum es hier nicht geht), die Kinderpsychologie fand neben Elterntagebüchern die schriftlichen Zeugnisse von Jugendlichen selbst als wichtigste Quelle, wobei es, Zitat, um den „sozialen und kontextuellen Charakter der individuellen seelischen Befindlichkeit“ geht. Dabei ergibt sich auch die wissenschaftlich zu erforschende Frage, aus welcher seelischen Disposition heraus Jugendliche Tagebuch führen (und was viele von ihnen später bewogen hat, diese so persönlichen Dokumente Wissenschaftlern zur Verfügung zu stellen).
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich die Fachrichtung Psychologie von Deutschland aus. Auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen wurde besonderes Augenmerk gelegt. Dabei schafften es „Elterntagebücher“ – die allerdings zu den „Fremdbeobachtungen“ Jugendlicher zählen – zu Erfolgen im Buchhandel, etwa „Bubis erste Kindheit“ des Ehepaares Gertrud und Ernst Scupin aus Breslau, die 1907 die Aufzeichnungen über ihren Sohn Wolfgang heraus brachten und Bericht und eigene Analyse kombinierten.
Damals findet sich häufig das Phänomen von Ehepaaren, die in diesem Bereich zusammen arbeiteten – auch Clara und William Stern (sie publizierten u.a. auf Grund eigener Erfahrungen über die Kindersprache, und die drei Kinder Stern wurden in der Psychologie durch die Untersuchungen ihrer Eltern an ihnen zu historischen Größen), Rosa und David Katz (über Erziehungsfragen). Auch Maria Jahoda, die bekannte Sozialistin österreichischer Geschichte, und ihr Gatte Paul Felix Lazarsfeld dokumentierten ihre Tochter Lotte mit wissenschaftlichem Ergebnis.
Charlotte Bühler (1893-1974), die im Zentrum des Buches steht (und von der Autorin kritisch betrachtet wird, weil sie sich nach deren Meinung zum Nachteil von Kollegen in den Vordergrund spielte), gilt als Pionierin der Kinder- und Jugendpsychologie, ihr Buch „Das Seelenleben des Jugendlichen“ brachte es 1921 sogar zu Bestseller-Ehren und basiert vordringlich auf Tagebüchern. Sie war durch einen Auftrag der Stadt Dresden auf das Thema gekommen, der sie um eine Untersuchung bat, wieso die Jugendkriminalität nach dem Ersten Weltkrieg so stark gestiegen war. Man wollte, so hieß es, die seelischen Entwicklungen der Jugendlichen besser verstehen. Das Ergebnis war (wie die Autorin selbst behauptet) der erste Überblick über die Pubertätspsyche (wobei sie viel Gemeinsames bei Mädchen und Jungen fand).
Neben der Arbeit von Charlotte Bühler, die eine große Sammlung von Jugendtagebüchern zusammen getragen hat, die dann durch die Emigration verloren ging, betont die Autorin die ähnlich gelagerte, aber viel weniger beachtete Arbeit ihrer Kollegen Siegfried Bernfeld, dessen Forschungen unter dem Aspekt eines politisch-sozialistisch-zionistischen Hintergrund stattfanden, sowie des Wiener Pädagogen Fritz Giese. Sie alle forschten auf dem Gebiet der Entwicklung Jugendlicher und zogen Tagebücher als Quellen heran. Dennoch waren es Charlotte Bühler und Karl Bühler (zwei eng verbundene Karrieren), die den Ruhm dieser Forschungssparte ernteten.
Das Buch widmet sich in der Folge der Tagebuchforschung bis heute, wobei die große Wende durch den Selbstdarstellungsdrang, den die neuen Medien evozierten, erfolgt ist. Da scheinen unter den veränderten Parametern nachfolgende Forschungsprojekte unvermeidlich.
Renate Wagner