Copyright: Kirsten Nijhof
LEIPZIG / Musikalische Komödie: DIE HERZOGIN VON CHICAGO von Emmerich Kálmán
31.10. 2018 (Werner Häußner)
Den Clash der Kulturen, die schwärmerische Nostalgie, die Träume von ewiger, romantischer Liebe über alle Grenzen hinweg hat es schon früher gegeben. „Das war’n noch Zeiten, alles war anders, alles war schön“, singt sich der Thronerbe eines maroden Kleinstaats, vermutlich irgendwo in der k.u.k-Einflusssphäre auf dem Balkan, in eine goldene Vergangenheit. Meint er seine unbeschwerten Kindertage? Meint er die Epoche, da sein Land noch problemlos absolut zu regieren war? Meint er die Zeit, da die Staatskassen noch nicht leer und die Petroleumgruben noch nicht an ein amerikanisches Konsortium verpfändet waren? Oder träumt er, wie Emmerich Kálmáns Operette „Die Herzogin von Chicago“ nahelegt, von jenen goldenen Zeiten, da man noch Walzer und Csárdás tanzte, anstatt zum Charleston Arme und Beine zappeln zu lassen – wie in seiner verachteten Gegenwart?
Es bleibt offen, was Julius Brammer und Alfred Grünwald, die geschickten Librettisten der leichten Muse in diesem mitreißenden Schlager ihrem Erbprinzen Sándor Boris ins Herz legen wollten. Und diese Unbestimmtheit ist auch eine Stärke der Operette: Sie gibt den Darstellern und der Regie die Freiheit, glaubwürdige Personen zu gestalten.
Genau dieser offene Zugang ist bei Ulrich Wiggers die offene Flanke: Er führt in seiner neuen Inszenierung der in letzter Zeit wieder häufiger gespielten Kálmán-Operette an der Musikalischen Komödie Leipzig die Figuren des Stücks nicht über sich selbst hinaus. Der Prinz bleibt der Operettentenor, die verwöhnte amerikanische Magnatentochter namens Mary Lloyd bleibt die Operettendiva. Der im Musical erfahrene Regisseur setzt auf die von Kati Heidebrecht gekonnt und flott gemachten Choreografien und übersieht dabei das Potenzial, mit dem Kálmáns Protagonisten zu Charakteren entwickelt werden könnten.
Denn in der eigentlich scheiternden Liebesgeschichte gäbe es viel mehr zu entdecken als die sentimentale Tragödie, die letztlich – man braucht ja ein Happy End – nur durch einen Kniff zu retten ist: 1928, als der Tonfilm seinen Siegeszug antrat und das Kino das Medium der Zukunft war, erscheint im letzten der vier Bilder der amerikanische Hollywood-Produzent Charlie Fox (Roland Otto) wie ein Deus ex machina auf der Bildfläche: Weil die „Herzogin von Chicago“ ein toller Stoff sei, brauche die „Geschichte nach dem Leben“ ein glückliches Ende, um einen erfolgreichen Film abzugeben. Steht am Ende ein Film-Finale oder doch eine Episode zweier Menschen, die sich verfehlt haben? Brammer und Grünwald fangen die Realitätsferne gängiger Operetten-Finali ironisch auf, indem sie die Grenze zur Welt der schönen Illusion einreißen. Folglich endet die Affäre in Leipzig mit einer Leinwand und dem Hinweis auf „The Happy End“.
Aber den Clash zwischen dem „alten“ Europa und dem modernen, schnellen, von der Macht des Geldes überzeugten Amerika bleibt zu sehr den wunderbar stilsicheren, opulenten Kostümen von Leif-Erik Heine überlassen. Hier der Zauber der Montur, ein prächtiger Husarenrock mit pelzbesetztem Mente und blinkende Uniformen, dort die flotten Anzüge und die fliegend leichten Kleider der Amerikanerinnen, gesteigert zu Sinnbildern, wenn die Erbin der Billionen als Freiheitsstatue und ihr Faktotum James Bondy als Uncle Sam auftreten. Hier der flotte, weltgewandte American Boy, dort eine puppenhaft ausstaffierte Prinzessin aus einem ebenso verarmten Nachbar-Fürstentum Sylvariens. Die Gegensätze der Kulturen sind deutlich markiert, aber bleiben in der Inszenierung oft nur anekdotisch.
So liefert die MuKo – wie Leipzigs Operettenhaus im Stadtteil Lindenau liebevoll genannt wird – hübsch angerichtete Unterhaltung mit bunt bevölkerten Bildern (die nicht übers Praktikable hinausgehende Bühne ist auch von Leif-Erik Heine), einem agilen Ballett und einem großartigen Kinderchor (Sophie Bauer), dessen kleine Husaren nicht nur erfrischend singen, sondern auch pointengenau sprechen und sogar tanzen. Ein Vergnügen, das nicht daran kratzt, was Operette heute bedeuten könnte, sondern die goldene Nostalgie in frisch aufpoliertem Glanz präsentiert und diejenigen bedient, die sich zurückträumen dahin, wo alles noch so schön war: Ja, Herrgott, das war’n Zeiten!
Nostalgischen Glanz verbreitet auch das Orchester unter der energischen Leitung von Tobias Engeli: Kálmán war ein Freund opulenter Instrumentation, die es heutigen Sängern – obwohl sie sich mit Mikroports zu helfen hoffen – nicht leicht macht. Oft malt der gesamte Streicherapparat, gestützt von den Holzbläsern, die Melodien aus. Dazu kommen eine Jazzband auf der Bühne und im Graben zeitweise drei Saxofone und ein ausdifferenziertes Schlagzeug. Die Schlager aus Kálmáns unerschöpflichem melodischem Erfindungsgeist rauschen in opulentem Schimmer auf, die Farben glänzen, aber – womöglich dem Platz des Zuhörers geschuldet – die rhythmischen Konturen und die Abmischung des orchestralen Kolorits bleiben blass.
Mary Lloyd wirbelt als selbstbewusste Milliardärstochter durch ihr Leben, gewohnt, ihre Wünsche sogleich erfüllt zu sehen, ob das nun ein „Slowfox mit Mary“ oder ein für Geld nur schwer zu erwerbendes Objekt aus dem „alten Europa“ ist, das sie in der Wette mit ihren reichen Freundinnen im „Young Ladies Eccentric Club“ als Siegespfand zu präsentieren gedenkt. Lilli Wünscher leiht ihr in bezauberndem Blond ihren klangvollen, aber nicht leicht in die Höhe geführten Sopran, der in gehaltenen, eine zuverlässige Stütze fordernden Tönen ungesund schwingt und das Kinn zum Vibrieren bringt.
Foto: Kirsten Nijhof/Oper Leipzig
Pures Entzücken dagegen bei Laura Scherwitzl. Die gebürtige Wienerin ist eine Soubrette wie aus dem Bilderbuch: gewandtes Auftreten, einwandfreie Artikulation, gekonntes Spiel mit Körper, Augen, Händen. Und dazu ein frisches, technisch abgesichertes Singen. Eine Rosemarie, die sicher nicht nur als „Lispelprinzessin“ alle Herzen im Sturm nehmen kann.
Auf der Seite der Herren strahlt sich Jeffrey Krueger als stets alerter James Bondy durch die American Bar und durch das sylvarische Staatsschloss; Milko Milev erweist sich als formatfüllender Komiker in der Doppelrolle der Väter – auf amerikanischer Seite ein pragmatischer Businessman nicht ohne Herz und mit einer kulinarischen Schwäche; auf der anderen als folkloristisch überdekorierter königlicher Patriarch, der sich in Paris mit den Damen Loulou (Emilie Cattin) und Joujou (Tatiana de Sousa) über den Bankrott seiner Staatskasse hinwegtröstet. Radoslaw Rydlewski stellt einen stattlichen Prinz Sándor Boris auf die Bretter: ernst und wehmutsumflort, mit gleißender, etwas festgedrückter Höhe, präsentem Zentrum, aber ohne flexiblen Schmelz. Als es noch schmeichlerische Operettentenöre gab, das war’n noch Zeiten. Aber wer weiß: In dem Maße, in dem Werke wie „Die Herzogin von Chicago“ wieder für das Repertoire entdeckt werden, kommen sie vielleicht wieder – und alles wird schön.