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LEIPZIG: DAS SCHLAUE FÜCHSLEIN – Premiere

26.02.2012 | KRITIKEN, Oper

Aus einem Altenheim – Lotte de Beer inszeniert Leoš Janáčeks Spätwerk Das schlaue Füchslein an der Oper Leipzig – 25.2.2012


Foto: Andreas Birkigt

Eine zierliche Greisin versucht, sich am Rollator hochzuhangeln – vergebens, immer wieder fällt sie entkräftet in den Sessel zurück. Und doch, nach unzähligen Versuchen gelingt es ihr: Mit verschlagenem Lächeln genießt sie den kleinen Triumph über die Gebrechen des Alters und zieht munter ein paar Runden durch jene Einrichtung, die euphemistisch als Seniorenresidenz bezeichnet wird. Moment, Leoš Janáčeks Oper Das schlaue Füchslein im Pflegeheim? Statt grünen Wäldern und Wiesen klinisch nüchterne Schlaf- und Speisesäle, statt Grille, Eule und Dackel eine greise Zwangsgemeinschaft in der letzten Phase ihres Lebens, deren gewohnte Ruhe durch die etwas wunderliche Frau Fuchs aus dem Ruder gerissen wird? Zugegeben, diese Lesart mag auf dem ersten Blick verwundern. In Lotte de Beers Inszenierung des Schlauen Füchsleins, die am 25. Februar 2012 ihre Premiere an der Oper Leipzig erlebte, geht sie aber erstaunlich gut auf.

Janáček wurde zu seinem 1924 uraufgeführten Spätwerk durch Rudolf Těsnohlídeks Novelle Abenteuer des Füchsleins Schlaukopf inspiriert, die 1920 in der Brünner Tageszeitung Lidové noviny veröffentlicht wurde und selbst wiederum auf die karikaturesken Federzeichnungen des Malers Stanislaw Lolek zurückgehen. Die Geschichte von der Füchsin Schlaukopf, die im domestizierten Umfeld des Forsthauses aufwächst, im Wald eine eigene Familie gründet und dort vom Wilderer Háraschta erlegt wird, ist eine märchenhafte Parabel über das ewige Werden und Vergehen der Natur, nicht zuletzt über Leben und Sterblichkeit des Menschen. Und es ist vermutlich Janáčeks persönlichste Oper: In der Figur des Försters, der in der Freiheit des Waldes den starren Grenzen der eigenen Gesellschaft entfliehen will und auf die Füchsin seine unglückliche Liebe zum Zigeunermädchen Terynka projiziert, spiegelt sich auch das Seelenleben des alternden Komponisten und sein Verhältnis zu der 38 Jahre jüngeren Kamila Stösslová wider.


Eun Yee You, Kathrin Göring. Foto: Andreas Birkigt

Von daher ist es keinesfalls an den Haaren herbeigezogen, die Handlung vom Wald ins Altenheim zu verlegen, zumal sich Janáčeks pantheistisches Weltbild heute nicht mehr zwangsläufig erschließt und dem Schlauen Füchslein mit einer naturalistischen Umsetzung ohnehin kaum beizukommen ist. Die junge Regisseurin Lotte de Beer, die ihr Handwerk unter anderem als Assistentin bei Peter Konwitschny gelernt hat, vermittelt ihre Konzeption vor allem über eine konsequente, detaillierte Figurenführung. Ein altes Ehepaar, Herr und Frau Fuchs, steht im Mittelpunkt der Handlung, das nach einem glücklichen, gemeinsam verbrachten Leben nun doch getrennte Wege gehen muss. Ihr Gedächtnis schwindet zusehends, zu unberechenbar ist ihr Verhalten, weshalb der Gang ins Pflegeheim unvermeidbar ist. Dies ist ein Ort mit mechanisierten Abläufen und strengen Hierarchien, für individuelle Bedürfnisse bleibt hier wenig Raum. Willkommene Abwechslung liefert die nachmittägliche Kaffeepause oder das Animationsprogramm des unermüdlich Gitarre spielenden Schulmeisters. Anfangs reagiert die Alte aggressiv auf die ungewohnte Umgebung und beißt Heimleiter Förster in die Hand, worauf sie am Bett fixiert wird. Doch zunehmend setzt sie dieser Trostlosigkeit eine eigene Phantasiewelt entgegen: Auf Marouscha Levys praktikabler Drehbühne bricht mit dem Wald eine parallele Realität in die klinische Ordnung, Arzt und Schwestern verwandeln sich in jene Hühnerschar, gegen die Janáčeks Füchslein einen Aufstand erprobt.

In de Beers Inszenierung geht es natürlich nicht um einen vordergründig sozialkritischen Verweis auf brisante Aspekte wie Demenz oder Pflegenotstand in einer alternden Gesellschaft. Im Gegenteil, durch die räumliche Verlagerung werden elementare Emotionen und Situationen des Lebens, die Janáčeks Oper zugrunde liegen, im Beziehungsgeflecht der Protagonisten noch deutlicher. Am eindringlichsten gelingt das vielleicht während der Trauung von Füchslein und Fuchs: Die Alte erkennt ihren Mann zuerst nicht wieder, spürt aber eine große Nähe zu ihm. Beide spielen ihre erste Begegnung nach, erleben in der Imagination noch einmal ihr Hochzeitsfest (witziges Detail: die folkloristischen Tänze des Chores) und verbringen die Nacht gemeinsam im Pflegebett. Auf subtile Weise spricht dieses irritierende Wechselbad aus Entfremdung und Vertrautheit Themen wie Vergänglichkeit und Abschied, aber trotz allem auch eine bedingungslose (und vom Alter unabhängige) Liebe zum Leben an – Erfahrungen, denen sich wohl jeder schon einmal stellen musste. Das ist poetisch, auf unsentimentale Weise berührend und durchaus gewitzt, wobei die gelungenen Kostüme und vor allem Heike Hennigs kongeniale Choreographie dem jungen Ensemble bei der Darstellung der – zuweilen auch tierische Anleihen aufweisenden – Alterskörper sehr entgegenkommen.

Sicher, indem de Beer vorwiegend das Altern und die menschliche Sterblichkeit in den Fokus ihrer Inszenierung rückt, bleibt die Gegenüberstellung von ungebändigter Natur und den zivilisatorischen Zwängen der Kultur, der Janáček gerade zur Kompensation seiner eigenen Sehnsüchte und Bedürfnisse große Bedeutung beimaß, ein wenig auf der Strecke. Zwar ist die Midlife Crisis des Försters, die er im Alkohol ertränkt, gut herausgearbeitet, die Wirtshausszene mit Pfarrer und Schulmeister, in der alle drei sich mit dem Versuch quälen, ihre auf Terynka gerichteten Triebe zu unterdrücken, bleibt jedoch blass. Auch der Wilderer Háraschta, hier ein Bestattungsgehilfe, kommt seltsam profillos daher. Es ist ein schöner Einfall, das Sterben der Füchsin auf zwei Ebenen, einer realen und einer imaginierten, zu zeigen, dem Todesboten (etwas behäbig im Spiel: Mathew Anchel) fehlt es jedoch an bedrohlicher Dämonie. Angesichts der inhaltlichen und motivischen Dichte der Inszenierung, die trotz der Verfremdung erstaunlich nah an Janáčeks Komposition und Libretto ist, fallen diese Einwände jedoch kaum ins Gewicht. Und im – etwas surrealen – Schlussbild finden die verschiedenen Ebenen dann doch wieder zusammen: Am offenen Sarg der alten Frau kann der Förster seinen Frieden mit dem Altern schließen, die tote Füchsin zeigt ihm, auch in der modernen Zivilisation Leben und Tod als Einheit zu betrachten.

Dass diese unkonventionelle Deutung in ihrer szenischen Umsetzung trägt, ist in erster Linie auch einem motivierten, höchst spielfreudigen Ensemble zu verdanken: In der Titelrolle ist Eun Yee You weit entfernt von einem soubrettenhaften Füchslein Schlaukopf und scheut vor dramatischen Anklängen nicht zurück, was dem Inszenierungskonzept zugutekommt. Ihr zur Seite steht Leipzigs Hosenrollen-Wunder Kathrin Göring, die den Fuchs gewohnt mit strahlendem, in allen Registern sicherem Mezzo gestaltet. Göring und You waren zusammen schon mit einigen berühmten Opern-Paaren zu erleben, darunter Romeo und Julia oder Octavian und Sophie. So eindringlich wie als Fuchs und Füchsin hat man sie aber noch nicht gesehen: Trotz heikler, intimer Thematik gelingt ihnen die Verkörperung der Alten ohne einen Anflug von unfreiwilliger Komik oder bloßstellendem Voyeurismus.
Tuomas Pursio verleiht dem zweifelnden, mit der Vergänglichkeit des Lebens hadernden Förster, der hinter der Maske des abgeklärten Zynikers die eigene Verletzlichkeit und Sehnsucht nach Liebe verbirgt, glaubhafte Zwischentöne und punktet gerade im apotheosehaften Schlussmonolog mit wohlintoniertem Bassbariton.

Unter den kleineren Rollen kann vor allem Timothy Fallon als enthusiastischer Lehrer sein komödiantisches Talent ausspielen, weitere Akzente setzen Karin Lovelius als skurrile Eule oder Olena Tokar als gebrechliche, aber lebenslustige Grille. Chor und Kinderchor der Oper Leipzig überzeugen mit Spielfreude, wobei gerade letzterer mit dem witzigen Handpuppenspiel der Fuchskinder über die Gefahren des Lebens begeistert.

Das Gewandhausorchester beweist unter seinem ständigen Gastdirigenten Matthias Foremny, dass es mit seinem dunklen, erdigen Klangideal auch für das slawische Repertoire prädestiniert ist. Allerdings gewinnt man mitunter den Eindruck, Bühne und Graben finden im Verlauf des Abends nicht immer zusammen, was sicherlich in erster Linie der deutschen, nicht immer sangbaren Textfassung geschuldet ist. Janáčeks Tonsprache ist untrennbar mit der Wortmelodie des Tschechischen verbunden, sodass eine Übersetzung wie bei kaum einem anderen Komponisten musikalische Abstriche zur Folge hat – bei den suggestiven Bildern der Leipziger Neuproduktion wäre sie ohnehin nicht zwingend nötig gewesen.

Am Ende des pausenlosen, knapp zweistündigen Abends einhelliger Jubel für You, Göring, Pursio und das Gewandhausorchester. Bei Lotte de Beer und ihrem Team liefern sich Kritiker und Befürworter der Inszenierung hingegen einen leidenschaftlichen Wettstreit, den die Fraktion der Bravo-Rufer zumindest bezüglich der Lautstärke für sich entscheiden kann.

Nach Dietrich Hilsdorfs sensationeller Jenufa konnte die Oper Leipzig mit dem Schlauen Füchslein eine weitere, außergewöhnliche Janáček-Interpretation vorlegen – bitte mehr davon!

Weitere Vorstellungen – teils in anderer Besetzung – sind in dieser Spielzeit am 04. und 18. März, 27. Mai sowie am 29. Juni.

Ingo Rekatzky

 

 

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