Hannes Leidinger / Christian Rapp
HITLER. PRÄGENDE JAHRE
Kindheit und Jugend, 1889 – 1914
254 Seiten, Residenz Verlag, 2020
Die Voraussetzungen für seinen Start ins Leben waren nicht wirklich günstig, aber auch nicht extrem ungewöhnlich. So wie Adolf Hitler, der am 20. April 1889 in Braunau am Inn zur Welt kam, mochte mancher einen unbeherrschten, prügelnden Vater gehabt haben und eine unterdrückte Mutter, die sich um diesen Sohn, der einzige, der ihr geblieben war, besonders sorgte. Auch mehrere Wechsel des Wohnorts und unsichere finanzielle Verhältnisse waren wohl für Kinder in dem Monarchie-Teil „Erzherzogtum Österreich ob der Enns“, wie das heutige Oberösterreich damals hieß, nichts Besonderes.
Die Frage, die sich die Nachwelt tausende, hunderttausende Male stellte – wie konnte aus ganz „normalen“ Voraussetzungen ein Mann entstehen, den man als den größten Verbrecher des 20. Jahrhunderts bezeichnet? Denn mögen es auch Stalin oder Mao numerisch auf mehr Tote gebracht haben, die auf ihr Konto gehen, so hat doch nur Hitler den „Holocaust“ zu verantworten, die geradezu fabriksmäßige Ermordungsmaschinerie, in die sechs Millionen Juden eingingen.
Wie wird man ein Monster, als das ihn die Nachwelt sieht? Hannes Leidinger und Christian Rapp, zwei Historiker und Kulturwissenschaftler, gehen der „österreichischen“ Jugend Hitlers nach, bis er sich dann mit seinem Umzug nach München „erfand“, als das, was aus ihm wurde: der Politiker, der durch sein Redetalent, durch seine Überzeugungskraft und seinen Fanatismus am Ende Massen bewegte. Wobei das Redetalent und der Wunsch, andere zu beherrschen, schon bei dem Jungen festzustellen waren.
Dieses Buch, das Hitlers Spuren minutiös folgt (was von der Quellenlage nicht schwer ist, weil längst versucht wurde, jeden nach dem Krieg verfügbaren Augenzeugen noch zu befragen), möchte zweierlei – und beides gelingt. Weder Hitler frei sprechen, wenn man aufzeigt, dass er eigentlich nur der Erbe von Strömungen war, die es längst gab und die er nur wirkungsvoll bündelte. Noch die Mitwelt freisprechen, die ihn erst mitformte, später mit ihm ging. Es ist ein Buch über Schuld, die im Grunde keine Sühne fand. Und es ist eine verblüffende Kindheitsgeschichte, für die die Autoren – mit aller kritischen Distanz – auch Hitlers eigene Erinnerungen, wie er sie in „Mein Kampf“ stilisierte, heran zogen.
Das Problem der Kindheit war der Vater, Alois Hitler, unstet, gewalttätig, kaisertreu und deutsch-national zugleich, der seinen Sohn allerdings nicht brechen konnte, wenn er auf ihn einschlug, sondern dessen stolzen Trotz weckte – frühe Karl-May-Lektüre lehrte Adolf, dass ein Indianer keinen Schmerz kennt…
Es war gewiß keine heile Welt, in der das Kind Adolf lebte, in der Volksschule war er allerdings mühelos Klassenprimus und gleichzeitig Rädelsführer der gleichaltrigen Jungen. Er war interessiert, vor allem an Geschichte, der bildenden Kunst (er war von früh an ein Museumsfreund) und an dem, was sich politisch in der Welt tat – im Burenkrieg stand er auf der Seite der Buren, nicht der Briten. Manch anderes formte sich gleichfalls in ihm, so betrachtete er genau, wie die katholische Kirche ihre Feste feierte (er selbst wurde nicht katholisch infiziert, wie es in seiner Region üblich war, hatte für die „Klerikalen“ nicht viel übrig), und während die Monarchie in ihren Nationalitätenkämpfen zerbröckelte, fragte sich wohl schon Adolf als Kind, wie „deutsch“ die Österreicher seien.
Es gab in seinem jungen Leben Orts- und Schulwechsel, in der Staatrealschule Linz wandelte er sich zum Problemschüler (der gleichaltrige Ludwig Wittgenstein war in ebenderselben Schule übrigens auch kein einfacher Insasse!). Adolf war noch nicht 14 Jahre alt, als der Vater 1903 plötzlich starb, was für ihn durchaus eine Erleichterung bedeutet hat. Der pubertierende Teenager war so störrisch und unfreundlich, dass niemand ihn mochte. In der Realschule waren dann Lehrer tätig, die deutschnationale Positionen vertraten und an ihre Schüler weiter gaben, zumal gerade in dieser Region schon damals von einer „Überfremdung“ (vor allem durch die Tschechen) und vom „antislawischen Abwehrkampf“ die Rede war. Im „Kulturkampf“ der Zeit stand das deutsche „Heil“ gegen das habsburgische „Hoch“, und Hitler entschied sich früh. Er musste für seine spätere Politik nichts mehr erfinden, es lag alles bereits auf dem Präsentierteller. Dabei berührte ihn der Antisemitismus lange Zeit nicht, auch, weil es in Oberösterreich nur wenige Juden gab (der Anteil lag bei rund 0,13 %). Er hat diese Bewegung, die er dann in Wien voll kennen lernte, später für sich instrumentalisiert. Immerhin – die „ohne Juda, ohne Rom“-Bewegungen erschütterte die Monarchie in ihren Grundfesten.
Die Jahrhundertwende, rund um 1900, gilt der Nachwelt als „Laboratorium der Moderne“. Was in Wien geschah, wetterleuchtete nur gering nach Linz, Adolf pflegte (übrigens lebenslang) seinen konservativen Historismus-Geschmack. Als er die Schule ohne höheren Abschluss beendete, wollte er keinen „normalen“ Beruf ergreifen, sondern unbedingt „Künstler“ werden.
Um 1905 lernte Hitler August Kubizek kennen, den einzigen Freund, der in seiner Jugend für ihn wichtig wurde. In ihm fand er einen Gleichgesinnten, auch leidenschaftlich der Kunst verpflichtet (nur dass er ein solides Musikstudium begann) – und er war, passiv, fügsam und unterwürfig, der ideale Zuhörer für des jungen Hitlers Monologe und Selbstdarstellungen. Gemeinsam „verfielen“ sie im Linzer Landestheater der Musik Richard Wagners, nachdem sie im Juni 1905 erstmals „Lohengrin“ gehört hatten.
Hitlers Zuwendung zu Wagner war sicher eine gewisse Kenntnis Bruckners voraus gegangen, der für die „nationale“ Sache ideologisch als deutscher Künstler proklamiert worden war. Wagner, der in Linz verhältnismäßig gut gespielt wurde (aber nicht so gut, dass die Wiener Hofoper nicht noch eine spürbare Steigerung bedeuten konnte), hat Hitler für den Rest seines Lebens beherrscht, in „Rienzi“ fand er seine persönliche Inkarnation. Und als er 1906 erstmals nach Wien kam, war er nicht nur trunken von der Architektur der Ringstraße, sondern auch von dem, was Gustav Mahler und Alfred Roller für Wagner geschaffen hatten… Theater und Musiktheater wurde für den jungen Hitler, wie die Autoren es formulieren, zur „Kompensation seiner selbst verschuldeten Niederlagen“.
1907 war der Tod der Mutter, deren Sterben er mit Liebe und Anteilnahme begleitete, eine Katastrophe für den 18jährigen, wozu noch die Ablehnung an der Wiener Kunstakademie kam. Er versuchte es zweimal, scheiterte zweimal, und niemand kann sagen, ob der Kunstschüler Hitler der Welt den Diktator Hitler erspart hätte. Da jene Aquarelle, die von ihm vorhanden sind, keinerlei wahres Talent erkennen lassen, wäre er hier vermutlich auch früher oder später gescheitert. Jedenfalls stilisierte er sich als verkanntes Genie und ließ sich in Wien nieder, erst in Untermietzimmern, dann im Männerwohnheim in der Meldemannstraße, wo er immerhin drei Jahre blieb. Er baute künstlerische Luftschlösser und malte (die erste, unwillig absolvierte „Arbeit“ seines Lebens) Aquarelle von Altwiener Ansichten, meist von Rudolf von Alt abgekupfert, die in Gasthäusern, auch in Buchhandlungen (als Billig-Souvenirs für Touristen) und ebenso von Tapezierern verkauft wurden.
Wien war, der Opernbesuche ungeachtet, eine düstere Episode in Hitlers Geschichte, eine Zeit, wo er aus Geldmangel am Bodensatz der Gesellschaft lebte. Das war auch ein Grund, warum er die Stadt dann doch nicht mochte und als „Führer“ seine Ambitionen auf eine Riesenumgestaltung von Linz ausrichtete. Doch Wien war eine politisch brodelnde Stadt, Bürgermeister Lueger hatte den Antisemitismus salonfähig gemacht, die Arbeiterbewegung gab Gelegenheit, Parteiformationen zu studieren, Hitler konnte nicht nur durch politische Diskussionen im Männerheim schlicht und einfach lernen.
Aber 1914 war dann alles ganz anders. Zwar wurde er schon im Mai dieses Jahres zur Musterung befohlen, aber der Krieg kam bald und war für ihn die Erfüllung, ein Glück, für das er dem Himmel aus ganzem Herzen dankte… (!!!) Obwohl (oder weil) er als Meldegänger hinter der Front nicht die Härten der Frontsoldaten mitmachte, fand er sich hier vier Jahre in seinem Element. Und als er 1919 nach München kam, war die Nachkriegs-Situation so explosiv, dass er die idealen Voraussetzungen fand, selbst an dem Feuerbrand der nächsten Jahrzehnte mitzuarbeiten. Ganz im Zentrum sogar, wovon er schon als Junge geträumt hatte.
Dass Hitler schon in seiner Jugend gewissermaßen zum pathologischen Fall wurde, machen die Autoren klar – er selbst musste sich zwischen einer „Doppelnatur“ hindurch finden, die in ihm wohnte, zwischen Kontrolle und Unbeherrschtheit, zwischen Passivität (er scheute eigentlich immer die Arbeit) und Hyperaktivität, zwischen Charme, den er bei Bedarf entwickeln konnte, und Rohheit. Wie viel Normalität für ihn möglich gewesen wäre – man weiß es nicht. Man weiß nur, was aus ihm geworden ist – und der Weg dahin ist in diesem Buch bemerkenswert nachgezeichnet.
Renate Wagner