Köthen / Schloss und Kirchen: 25. KÖTHENER BACHFESTTAGE – 3. bis 7.9.2014
Hans Georg Schäfer. Fotograf: Henner Fritzsche, Köthen
Man möchte die 25. Köthener Bachfesttage mit einem lachenden und einem weinenden Auge betrachten. Sie waren ein weiterer Höhepunkt dieser Festtage, aber gleichzeitig auch der Abschluss einer glanzvollen Ära unter dem verdienstvollen Intendanten Hans Georg Schäfer, dem Ehrenbürger der Stadt Köthen. Als ausgebildeter und aktiver Pianist und Dirigent gab er Konzerte und Gastdirigate in Berlin, Wien, Mailand, San Francisco, Los Angeles, Barcelona u. a. m. und war u. a. Intendant der Berliner Philharmoniker (1985-1989). Siebenmal organisierte und leitete er seit 2001 die, aller 2 Jahre stattfindenden, Bachfesttage und holte die Weltelite der Alten Musik nach Köthen und damit die internationale Besucherschar aus ganz Deutschland und Europa, Amerika und Japan. Mit einer stetigen Qualitätssteigerung durch seine Auswahl der Werke und Klangkörper rückte die Bachstadt Köthen in den Fokus von Musikkennern und -liebhabern und wurde zu einem international beachteten Festival.
Große Verdienste erwarb er sich außerdem um die Errichtung des Johann-Sebastian-Bachsaales im total zerfallenen Marstall des Schlosses als Ersatz für den dringend sanierungsbedürftigen Spiegelsaal, in dem Bach einst die Hofkapelle leitete. Die St.‑Agnus-Kirche, in der Bach während seiner Köthener Zeit die Gottesdienste besuchte, wäre ohne sein Engagement rettungslos verloren gewesen. Inzwischen ist sie – stilgerecht saniert – zu einem baulichen Kleinod und idealen Konzertraum geworden.
Jetzt möchte sich der unermüdliche Manager, Musikliebhaber und -kenner wieder aktiv „seinem“ Klavier und passiv dem Musikhören zuwenden. Am 31.12.2014 wird er nun (altersbedingt) sein Amt niederlegen und den Stab in die Hände des ihm freundschaftlich verbundenen Folkert Uhde geben.
Die Authentizität der Orte und die Elite der Musiker sind national und international zu wichtigen Pfeilern der Bachfesttage geworden, die auch in diesem Jahr wieder eine Reihe außerordentlich interessanter Konzerte in hoher und höchster Qualität brachten.
In der (vorwiegend) gotischen St.-Jakobs-Kirche präsentierte Marc Minkowski mit den, von ihm 1982 gegründeten, Les Musiciens du Louvre Grenoble und 10 Solisten, die gleichzeitig den Chor – alle Stimmlagen nur einfach bzw. doppelt besetzt – bildeten, im Eröffnungskonzert (3.9.) eine neuartige, spezielle Gesamtkonzeption der „Messe h‑Moll“ (BWV 232) von J. S. Bach. Trotz kleiner Besetzung (5 Damen, 5 Herren) „strömten“ die nacheinander einsetzen, z. T. etwas gutturalen Einzelstimmen sehr unterschiedlicher Timbres in sehr guter Klangkultur und ausgezeichneter Abstimmung, zusammen mit der Klangfülle des Kammerorchesters in der Akustik der Apsis „himmelwärts“.
Wie ein stellvertretender Bittgesang aus der zahlreich erschienenen „Gemeinde“ begann das „Kyrie“ mit Sopran und Alt. Die Solisten wechselten meist lautlos ihre Positionen wie bei den Wandelgesängen der Mönche, so dass sich merklich und unmerklich immer wieder neue Aufstellungen bis zur Zweichörigkeit ergaben, wenn auch mit kleinen „Kunstpausen“ für die Arienbegleitungen durch die Soloinstrumente. Bei den Bläsern gab es auf den Nachbauten alter Instrumente von Naturtrompete, Barockflöte und Fagott keinen falschen Ton.
Mit erstaunlicher Stimme, wie eine perfekte Frauenstimme, überraschte der Altist Terry Wey. Waren auch die einzelnen solistischen Leistungen unterschiedlich, gab es doch eine sehr gute Gesamtwirkung. Zwar kann ein so kleiner Chor keinen großen Chor mit entsprechender Durchschlagskraft ersetzten, aber Marc Minkowski führte als Spiritus rector, durchdrungen von der Musik Bachs, alles zu einer großartigen Gesamtkonzeption. Teil II der Messe war von einer ständigen Steigerung begleitet. Das „Et resurrexit“ mündete in einen unendlichen Jubel. Im „Sanctus“ erreichte der Chor eine ungeahnte Klangfülle bis zum großartigen „Osanna“, bei dem Sänger und Orchester ganz konform waren. Ein tief berührender Ausklang war Wiebke Lehmkuhl, die schon vorher durch ihre Professionalität im besten Sinne auffiel, mit ihrem „Agnus dei“ und dem Chor mit dem „Dona nobis pacem“ voller Harmonie und entsprechend dezenter Orchesterbegleitung zu danken.
Das Festkonzert mit offizieller Verabschiedung von Hans Georg Schäfer (6.9.) in der St.‑Agnus-Kirche wurde von heftigem Gewitter begleitet, was aber kein Omen sein sollte. Es verhinderte lediglich das pünktliche Eintreffen des Cembalisten und ließ die Saiten von Sigiswald Kuijkens Violoncello da spalla (Viola Pomposa oder Violoncello piccolo) „erweichen“, ein Instrument der Barockzeit in Tenorlage mit 5 Saiten, dass nicht zwischen den Knien gespielt, sondern „auf den Arm genommen“, d. h. an einem um den Hals hängenden Gurt gespielt wird, auf dem Kuijken die beiden „Suiten“ Nr. I G‑Dur (BWV 1007) und Nr. III C‑Dur (BWV 1009) von J. S. Bach perfekt spielte. Es wurde auch als Orchesterinstrument von einem anderen Musiker eingesetzt, wenn Kuijken neben verschiedenen Geigerinnen das 1. Pult übernahm. Der Ton des Violoncello da Spalla wirkte lediglich etwas trocken. Obwohl mit einem Barockcello oder auch modernem Cello der Klang wesentlich verfeinert werden kann, war es doch interessant, aus heutiger Sicht diese Kuriosität kennenzulernen.
Da Schäfer Bach über alles liebt, stand ihm zu Ehren nur Bach auf dem Programm: außer diesen beiden Suiten die „Brandenburgischen Konzerte Nr. III, IV, V und VI und die weltliche Kantate „Durchlaucht’ster Leopold (BWV 173a), die Bach in Köthen für den Geburtstag seines Dienstherrn und Freundes, Fürst Leopold von Anhalt-Köthen schrieb, mit Yeree Suh, Sopran und Jan Van der Crabben, Bass als Solisten. Die Musiker von La Petite Bande, ein eingespieltes, untereinander bestens abgestimmtes Team, musizierten lebhaft und locker, mit echt barocker Musizierfreude, gekonnter, unauffälliger Stufendynamik und dezentem Glanz, dominiert vom Klang der 2 Blockföten und Violinen, die langsamen Sätze sehr verinnerlicht, mit viel Musikverständnis und Stilgefühl, was leider schon nicht mehr selbstverständlich ist – eine ideale Wiedergabe von Barockmusik, vital, kein Quäntchen zu viel oder zu wenig, gerade richtig zwischen vitaler Spielfreude, Lebhaftigkeit, innerer Anteilnahme, Stilgefühl und geistiger Durchdringung.
Ausschließlich Bachs Musik prägte auch das Programm des Konzertes mit dem Pionier und Altmeister der Alten-Musik-Szene Ton Koopman, der durch die Musik ewig jung zu bleiben scheint. Mit ungebrochener Energie und Enthusiasmus leitete er vom Cembalo aus in der St.-Jakobs-Kirche das, von ihm 1979 aus international gefragten Barock-Spezialisten gegründete, Amsterdam Baroque Orchestra, das mit der „Orchestersuite III“ D‑Dur (BWV 1068), durch akribische Genauigkeit und barocke Opulenz des Klanges, aber auch besondere Innigkeit im berühmten, feierlichen „Air“ bestach.
Für die Kantate „Herr Jesu Christ, wahr‘ Mensch und Gott“ (BWV 127) wechselte Koopman zur Truhenorgel, die er mit gleicher Meisterschaft beherrscht. Dazu gesellten sich der, ebenfalls von ihm 1992 gegründete, mehrfach ausgezeichnete Amsterdam Baroque Choir, der wegen seiner außergewöhnlichen Kombination aus textlich-strukturierter Klarheit und interpretatorischer Flexibilität zu den hervorragendsten Chören der Welt zählt, sowie die Solisten Esther Ebbinge, Sopran, die aus dem Chor heraus sang, und der Bassist Klaus Mertens, der über Jahrzehnte, den Oratorienaufführungen, die er mitgestaltete, Glanz und Ausdruck verlieh. Seine überaus deutliche Artikulation, seine kraftvolle, wohlklingende Stimme, sein langer Atem und eine unauffällige, aber sehr eindrucksvolle Phrasierung dienen einem ausdrucksstarken, immer dem Inhalt der Komposition entsprechenden, Gestaltungsvermögen und gehören gegenwärtig zu den seltenen Tugenden eines Sängers. Mit scheinbarer Leichtigkeit sang er alle Verzierungen aus und ließ keine Wünsche offen. Den Anforderungen der Tenor-Partie wurde Tilman Lichdi mit seinem relativ dunklen Timbre gerecht. Für Bachs „Magnificat“ D‑Dur (BWV 243) gesellte sich außerdem die polnische Mezzosopranistin/Altistin Bogna Bartosz hinzu. Das Duett Alt-Tenor gestalteten beide erfahrenen, kultivierten Sänger mit entsprechender Kongenialität trotz unterschiedlicher Timbres und Gesangsstil.
Dass es nur sehr kleine Pausen zwischen den einzelnen Nummern gab, steigerte den Gesamteindruck und ließ das „Magnicat“ (BWV 243) zu einem beeindruckenden Ganzen werden, dem besonders der Klang der Instrumente Glanz und Nachhaltigkeit verlieh. Obwohl Puristen der Alten Musik jetzt aufgrund wissenschaftlicher Forschungsergebnisse manches bei der Aufführungspraxis Alter Musik anders sehen als Ton Koopman, kam es dank seines Temperamentes und Engagements, das auch dem kleinsten Detail galt, zu einer der faszinierenden, mitreißenden Aufführungen, die glücklich machen. Das begeisterte Publikum entließ die Ausführenden dann auch erst nach einer Zugabe, dem „Gloria“ aus Bachs „h‑Moll-Messe“.
Mit „Frena le Belle lagrime“ von Carl Friedrich Abel (1723-1787) und der „Sonate D‑Dur“ (Wq 137) von C. P. E. Bach ergänzte die Hamburger Ratsmusik ohne Dirigent in ihrem Programm (5.9. – St. Agnus) die „Hochzeitskantate“ von J. S. Bach „O holder Tag, erwünschte Zeit“ (BWV 210), bei der die Stimme von Dorothee Mields, Sopran sehr gut mit den Instrumenten, vor allem mit der, ihre Arie begleitenden, Gambe, nebst Cembalo harmonierte. Mit Barockgesang durchaus vertraut, verfügt sie über den nötigen Stimmumfang. Nur die Höhe wirkte seltsam schrill, und man konnte beim besten Willen kaum den (deutschen) Text verstehen.
Die Instrumentalisten, ein auf die Barockmusik mit all ihren Klangschönheiten eingeschworenes, eingespieltes Team, begeisterten mit dem schönen, warmen, natürlichen Ton von Gambe und Cembalo, dem guten Klang der Oboe und dem dezenten Klang der Barockflöte. Die Zugabe war fast ein „Sakrileg“ in der „Bach-Kirche“. Dorothee Mields sang von G. F. Händel „Meine Seele hört im Sehen“ aus „Neue deutsche Arien“ im „Duett“ mit Soloflöte und Orchester.
Eine andere Bachkantate, „Erschallet, ihr Lieder“ (BWV 172) erklang im Kantatengottesdienst in St. Agnus (7.9.) unter der umsichtigen Leitung von Martina Apitz, der verdienstvollen Kantorin und Leiterin des Köthener Bachchores mit Grit Wagner, Sopran, Ingeborg Nielebock, Alt, Karl Hänsel, Tenor und Jasper Schweppe, Bass sowie Orchestermusikern, die – jeder auf seine Art – mit der Interpretation von Bachs Musik vertraut waren.
Mit Musik des 20. Jh. verbanden unter der Leitung von Paul Van Nevel das, von ihm gegründete und seit 40 Jahren als eines der renommiertesten Vokalensembles für polyphone Musik des Mittelalters und der Renaissance geltende, Huelgas Ensemble und das Minguet Quartett alte, sehr alte und neue Musik in ihrem Konzert (4.9. – St. Agnus). Als „Auftakt“ stellten sich beide Ensembles getrennt voneinander vor. Die 2 Sängerinnen und 5 Sänger des Huelgas Ensembles hatten eine weitgehend unbekannte Komposition eines weitgehend unbekannten Komponisten, die „Sequentia Diese Irae“, ein Ausschnitt aus einer liturgischen Totenmesse, der „Missa pro defunctis“, von Jacobus De Kerle (1532–1591) aus dem Dornröschenschlaf geweckt und brachten nun mit ihren schönen Stimmen in ausgefeilter Harmonie, viel Sachkenntnis und auffallend reiner Intonation diese kunstvolle, an die strengen Gesetze der Gregorianik gemahnende Sequenz den kunstinteressierten Besuchern in sehr ansprechender Weise näher. Obwohl sich das Minguet Quartett, dessen Namenspatron ein spanischer Philosoph des 18. Jahrhunderts war, vorwiegend auf das klassisch-romantische Repertoire und die Musik der Moderne konzentriert, verstanden es die Musiker, als Reminiszenz an den traditionsreichen Ort die „Contrapuncti I, III, IV und IX“ aus der „Kunst der Fuge“ (BWV 1080) von J. S. Bach, dem Genius loci, überzeugend, mit besonderer Klarheit und schöner Klangfülle und ohne jede Spur von Antiquiertheit, ausgewogen, frisch und gegenwärtig zu präsentieren.
Schließlich führten beide Ensembles gemeinsam in die Gegenwart mit einem größeren Ausschnitt aus dem „Requiem“ für Vokalquartett und Streichquartett (2009), dem Teil „Et Lux“, des meistgespielten Gegenwartskomponisten, Wolfgang Rihm (*1952). Er bezieht sich darin bewusst auf Texte der lateinischen Totenmesse, die er jedoch nicht „intakt und in liturgisch korrekter Folge vertont hat, sondern eher in „kreisenden Reflexionen“, wie er sagt. Der Chor setzt zuweilen auch „schräg“ mit dissonanten Klängen ein, aber immer im Rahmen einer guten Tonalität. Bei den Instrumenten wird mitunter auch schon einmal – wie es bei Gegenwartskompositionen zurzeit üblich ist – auf das Gehäuse geklopft oder die Streicher zupfen die Saiten, aber nie übertrieben und immer in einer gewissen Ordnung und Sinnhaftigkeit, alles auf einen persönlichen Fokus hinwirkend.
Aus ungewohnten, teils neuartigen, verklärenden, aber immer interessanten Klängen, die, an die alte Liturgie angelehnt, immer aus einem persönlichen Bezug heraus, entstanden zu sein schienen, entstand ein neuer Klangsinn, der sich trotz aller Zuspitzung weniger schockierend in Richtung der tröstlichen Seite verklärend auflöst, nicht zuletzt dank der akribisch genauen, klangschönen und transparenten Ausführung durch alle Beteiligten. Mit seinem „Requiem“ hat Rihm die alte lateinische Totenmesse in freier Form neu beschworen, weiterentwickelt und als ein persönliches Bekenntnis der Auseinandersetzung zwischen existentieller Frage, Glauben und Realität in die Gegenwart geholt.
Paul van Nevel, der Spiritus rector dieses interessanten Konzertabends mit sakraler Musik aus 3 verschiedenen Epochen in interdisziplinärer Herangehensweise, und die beiden Ensembles verstanden es, durch ihr neuartiges, ungewohntes, aber sinnstiftendes Programm erstarrte Gewohnheiten aufzubrechen und mit ihrer Begeisterung auch das Publikum immer wieder aufs Neue zu überraschen.
Alte und neue Musik verband auch der Nederlands Kamerkoor unter der Leitung von Reinbert de Leeuw. Den Bach-Motetten „Lobet den Herrn, alle Heiden (BWV 230) und „Singet dem Herrn eine neues Leid“ (BWV 225) stellten sie „Immortal Bach“ von Knut Nystedt (*1915) und den „Sonnengesang“ für Violoncello (Juris Teichmanis), Kammerchor und Schlagzeug (Pauline Post) von Sofia Gubaidulina (*1931) gegenüber.
Noch weiter ging der luxemburgische Pianist Francesco Tristano, der „DJ der Barockmusik“. Er ließ den modernen Konzertflügel im J.-S.-Bach-Saal (6.9.) auf ein hohes Podium stellen (was sich akustisch nicht besonders günstig auswirkte), um in echter DJ-Pose, davor stehend wie am Keyboard, „ohne Fehl und Tadel“ mit zierlichen Fingern die „Konzerte g‑Moll“ (BWV 1058), „A‑Dur“ (BWV 1055) und „d‑Moll“ (BWV 1052) von J. S. Bach sowie das „Konzert d‑Moll“ (Wq 1/23) von dessen Sohn Carl Philipp Emanuel Bach zu spielen und damit die Tradition – zunächst nur äußerlich – zu durchbrechen, begleitet vom wunderbaren Kölner Kammerorchester, das in einem optimalen Tempo und wunderbarer Klangfülle die „Ciacona g‑Moll (Z 730) des jung verstorbenen Henry Purcell (1659-1695) beisteuerte.
Tristano, der nicht nur Bach, sondern auch Strawinsky, Ravel, Debussy, Wagner und Strauss spielt, hat Mut, neue Wege zu gehen. Flott, mit Spielfreude und Verve holten er und die Kölner Bach sehr diesseitig in unsere Zeit – „Crossover“ im besten Sinne, um die traditionelle Spielweise aufzulockern und der Jugend, die auch im Publikum vertreten war, näher zu bringen. Als Zugabe spielte er „zur Abwechslung noch ein bisschen Bach“ aus einer „Französischen Suite“.
Noch weiter ging er in der „Bach Party“ im ehemaligen Pferdestall des Schlosses (6.9.) unter dem Titel „Conversations with Bach“, bei der er sich auf sehr moderne Art mit Bach „unterhielt“, mit dumpfen Bässen und schrillen Geräuschen. Für ihn ist Bach „Techno in seiner Urform“. Die Palette seiner Darbietungen reichte von einer modernen Interpretation der „Französischen Suiten“, die Bach in Köthen komponierte, keine Musik zum Tanzen, sondern „Unterhaltungsmusik“ in Tanzrhythmen, über moderne Bearbeitungen Bachscher Kompositionen bis zu Techno, leicht und spielerisch, von langsam bis zu atemberaubendem Tempo. Es war eine „Konversation zwischen Bach und moderner, elektronischer Musik“, wie Intendant Hans Georg Schäfer betonte.
Nachdem sich Wanda Landowska Anfang des 20. Jh. in besonderer Weise um die Wiederentdeckung der Kielinstrumente verdient gemacht und damit wichtige Impulse für die historische Aufführungspraxis gegeben hatte, „boomt“ die Wiedergabe Bachscher und anderer Klavierwerke der Barockzeit auf dem Cembalo. Jetzt ist schon fast der moderne Konzertflügel für Bachs Klavierwerk die Ausnahme und für manche Konzertbesucher „unpassend“. Zweifellos ist der Ton auf dem Klavier nicht so feinsinnig wie beim Cembalo. Dafür kommen die polyphonen Strukturen besser zur Geltung. Die pianistischen Darbietungen während der Bachfesttage bewiesen, dass das Klavier nach wie vor seine Bedeutung für die Bachinterpretation hat. Das alleinig richtige Instrument dürfte es für Bach ohnehin nicht geben. Wirklich zu erfassen ist seine Musik wahrscheinlich am besten in der Vielfalt der Instrumente, so vielfältig wie seine Musik.
Das bewies der sympathische Pianist Piotr Andrejewski mit seiner Matinee im J.S.Bach-Saal (5.9). Er betonte die lyrisch gefühlvolle, melodische Seite der „Englischen Suiten“ Nr. I A‑Dur (BWV 806) und Nr. VI d‑Moll (BWV 811) von J. S. Bach, die zweifellos auch im Werk vorhanden ist. So vielseitig wie Bachs Musik ist, kann sie auch interpretiert werden. Andrejewskis Spiel war sehr klar, zuweilen auch eigenwillig und individuell mit einem guten Maß pianistischer Fähigkeiten der polnisch-russischen Schule, die bei ihm noch weiterlebt und die ihre Wirkung nie verfehlt.
Am Klavier gelten andere Gesetze als am Cembalo. Hier gab es starke Kontraste, eine gute Symbiose zwischen innerer Ruhe, Sanftheit (ohne sentimental zu werden) und jugendlichem Temperament. Sensible, lyrische und klangschöne Passagen wechselten kontrastreich mit derben, harten, lautstarken, bis ins Grandiose gesteigerten, ab – ein gutes Maß an pianistischen Fähigkeiten, wirkungsvollen Effekten und musikalischem Gefühl aus einer verinnerlichten Grundeinstellung heraus. Die Treffsicherheit seiner Finger ist verblüffend. Bei der souverän und sehr lebhaft wiedergegebenen „Novelette fis-Moll (op. 21/VIII) von R. Schumann und noch mehr bei L. v. Beethovens „Sonate für Klavier As‑Dur (op. 110) nahm er die Zuhörer mit in seine geistige Welt. Es war in ihrer Art eine sehr überzeugende Interpretation voller Intensität, Originalität und Bravour.
Eine ganz andere Art der Interpretation bot Ewgeni Koroljow mit Bachs feinsinnigen „Goldbergvariationen“ (7.9. – J.S.Bachsaal). Einer netten „Episode“ (N. Forkel) zufolge, die jedoch von der Musikwissenschaft angezweifelt wird, hat Bach die „Goldberg-Variationen“ für den russischen Gesandten am Sächsischen Hof in Dresden, Graf von Keyserlingk, komponiert, einem seiner Bewunderer und Freunde, der unter Schlaflosigkeit litt und deshalb Bach gegenüber äußerte, dass er gern einige Musikstücke für seinen Cembalisten J. G. Goldberg, einen hochbegabten Schüler Wilhelm Friedemanns und Johann Sebastian Bachs, hätte, die so sanften und etwas muntern Charakters wären, dass er in seinen schlaflosen Nächten dadurch ein wenig aufgeheitert würde. Bach meinte, diesem Wunsch am besten mit einer „Aria mit 30 Variationen“ gerecht zu werden, obwohl er die Variationsform wegen der immer gleichen Grundharmonie vorher für eine undankbare Arbeit hielt. Jetzt gelten die „Goldberg-Variationen“ als Höhepunkt der Variationskunst der Barockzeit, die nicht nur von musikhistorischem Interesse sind, sondern unmittelbar auch den heutigen Hörer begeistern können.
Zweifellos scheint der Klang eines Cembalos der „Aria“ mit ihren Variationen, kleinen, zarten Kunstwerken mit internem Zusammenhang, am besten zu entsprechen. In unserer heutigen, sehr experimentierfreudigen Zeit gibt es jedoch bereits auch Einspielungen auf der Orgel. Wenn man aber Ewgeni Koroljow, der sich dem Werk Bachs sehr verbunden fühlt, am modernen Konzertflügel hört, so feinsinnig und mit Hingabe gespielt, ist man unweigerlich gefangengenommen von seinem Spiel, fühlt man sich in eine andere Welt versetzt. Dem Reiz dieser intensiven Art der Wiedergabe mit feinster Phrasierung und einem untrüglichen Sinn für das Wesen einer jeden Variation, sehr abwechslungsreich, differenziert und mit reizvollen Kontrasten gespielt, kann sich wohl auch kein Verfechter des Cembalos entziehen.
Koroljow meidet allen äußeren Schein. Er konzentrierte sich voll und ganz auf dieses musikalische Meisterwerk, das mit einer „Aria“ – nicht im Sinne einer Opernarie, sondern damals ein sanghafter Instrumentaltyp -, beginnt, die noch einmal als Abschluss erschien. Die 32taktige Basslinie (nicht die Melodielinie) der „Aria“, die möglicherweise nicht von Bach selbst stammt, sondern eher von Couperin – auch das ist eine übliche Praxis – bildet das Thema der einzelnen Variationen, die formell zwar ähnlich erscheinen, von denen aber jede ihren eigenen Charakter und ein anderes Flair hat, angelehnt an Tänze der damaligen Zeit, wie Polonaise, Menuett, Passepied, Sarabande, dem französischen Typ der Gigue, oder an eine Fuge, ein Lamento oder Quodlibet. Koroljow wurde dem im besten Sinne gerecht. Er gilt als besonderer „Geheimtipp“ unter Kennern und Liebhabern der Musik Bachs, obwohl sein Repertoire auch die Wiener Klassiker, Schubert, Chopin, Debussy bis hin zu Messiaen und Ligeti umfasst. Allen, die das Glück hatten, die „Goldberg-Variationen“ von ihm zu hören, wird diese Matinee in bester Erinnerung bleiben, denn sie dürfte zweifellos zu den besonderen Highlights der 25. Köthener Bachfesttage gehören.
Zu den besonderen Highlights gehörte auch die Matinee mit Isabelle Faust. Sie war glücklich, endlich einmal in Köthen zu sein, wo Bach die „7 glücklichsten Jahre seines Lebens“ verbrachte, und an authentischem Ort, der St.-Agnus-Kirche (6.9.) seine Kompositionen zu spielen. Mit herzhafter Frische energischem Strich, virtuos, energiegeladen und mit leicht herber Klangschönheit, widmete sie sich J. S. Bachs „Sonate für Violine solo Nr. III“ C‑Dur (BVW 1005) und seinen „Partiten für Violine solo“ Nr. III E‑Dur (BWV 1006) und Nr. II d‑Moll(BWV 1004) mit der berühmten „Chaconne“. In relativ zügigem Tempo, ließ sie mit großer Klarheit und herrlicher Klangfülle, mit besonderer Leuchtkraft und Lockerheit die einzelnen Stimmen in perfekter Polyphonie miteinander korrespondieren. Sie steigerte sich immer mehr in Bachs geistige Welt hinein, die unwillkürlich „die Seele in Schwingungen geraten ließ“ und in „eine andere Welt entrückte“- eine großartige, sensationelle Leistung, die nach anhaltender verklingender Stille mit viel Beifall und Bravos bedacht wurde.
Keinen Beifall, keine Reaktion des Publikums bewirkten hingegen trotz der grandiosen Wiedergabe die rein virtuosen Stücke „MIKKA for solo Violin“ von Jannis Xenakis (1922-2001) mit Auf- und Abwärts-Glissandi in den verschiedensten Schattierungen und Klangfarben in einem individuellen Prinzip und neuartigen „knatschenden“, unzufrieden nörgelnden Tönen und „Aus Signs, Games and Meddages“ von György Kurtág (*1926) mit tatsächlich spielerischen, im positiven Sinne, experimentellen Klängen wie auch der Erzeugung sehr leiser kaum wahrnehmbarer, sich im Raum verlierender Klänge, die von ihr mit Hingabe und besonderer Feinheit geboten wurden und bei denen ihre Meisterschaft erst recht deutlich wurde.
Trotz größter technischer Schwierigkeiten spielte sie alles meisterhaft und mit Selbstverständlichkeit, weshalb sie das Publikum nicht ohne Zugabe, der „Siziliana“ aus Bachs g‑Moll-Sonate entließ.
Während der Bachfesttage treten in Köthen die besten, weltweit gefragten Solisten, Chöre, Ensembles und Dirigenten auf, aber es gehört auch zu einer schönen Tradition, den jüngeren und jüngsten „Pianisten“, der übernächsten Generation aus ganz Deutschland in einem Preisträgerkonzert (6.9.) ein Podium zu geben. Die besten, der im Rahmen des, 1999 gegründeten, Wettbewerbs zu Ehren J. S. Bachs für Schüler (nicht Studenten) hatten Gelegenheit, ihr Können einem interessierten Publikum vorzustellen. Sie wurden im Oktober 2013 aus 65 Teilnehmern aus ganz Deutschland in drei Altersgruppen ermittelt und überraschten mit erstaunlichen Leistungen.
Die 1. Preisträgerin der jüngsten Gruppe, Laetitia Naemi Hahn aus Sinzig, die gerade 11 Jahre jung geworden ist, schon als Vierjährige eingeschult wurde, mit zwei bzw. vier Jahren mit dem Klavier- und Violinunterricht begann und 2011 ihr erstes Konzert mit beiden Instrumenten gab, spielte jetzt die „Französische Suite“ Nr. V G‑Dur (BWV 816) von J. S. Bach mit natürlicher Selbstverständlichkeit und einer, für dieses Alter ungewöhnlichen Perfektion und Stilsicherheit – ein Wunderkind oder systematisch gefördertes Talent?
Auch in Sachen-Anhalt gibt es hoffnungsvolle Talente, wie die 13jährige Barbara Dietrich aus Kemberg bei Wittenberg, 1. Preisträgerin in der Altersgruppe 2, die im Alter von 4 Jahren ihre musikalische Ausbildung begann und schon 1. Preise bei Regionalausscheiden und 2. Preise beim Bundeswettbewerb gewann. Sie trat schon sehr selbstsicher mit Bachs „Französischer Suite“ Nr. III h-Moll (BWV 814) auf und orientierte vor allem auf makellose Technik und Virtuosität. Es ist erstaunlich, mit welcher Intensität und Ernsthaftigkeit die jungen Künstler ihre Stücke einstudieren und darbieten, auch wenn da gelegentlich einmal ein kleiner Lapsus passiert.
Die 18jährige Amy Reiss aus Oftersheim, die sich den 3. Preis in der Altersgruppe 3 erspielt hatte, beeindruckte mit Bachs „Partita“ Nr. VI e-Moll (BWV 830) nicht nur durch ihr virtuoses, technisch versiertes Spiel, sondern auch eine geistige Reife und besonders schöne Klangwirkungen mit einem leichten Hauch von Romantik, der der Musik der Barockzeit keineswegs fremd ist und dieser Partita einen besonderen Reiz verlieh. Sie entwickelte bereits einen eigenen Stil, der gegenwärtig weniger im Blickpunkt steht, aber die Palette der Bachinterpretationen durchaus bereichert.
Der einzige männliche Preisträger, der ebenfalls 18jährige Till Hoffmann aus Stuttgart, der den 1. Preis in der Altersgruppe 3 erhielt, durchbrach die Reihe der reinen Bachprogramme mit der sehr eigenwilligen, 1960 entstandenen 12tönigen „Improvisation und Fuge“ von Alfred Schnittke (1934 – 1998), die mit ihren harten, lauten, dissonanten und schrillen Tönen im starken Kontrast zu Bachs wohlgeordneten, melodischen Kompositionen stand. Während die drei Preisträgerinnen sämtlich Klavierwerke von Bach spielten, die in Köthen entstanden sind, spielte er Bachs, in Leipzig entstandenes, „Italienisches Konzert“ F-Dur (BWV 971) mehr als „Pflichtstück“. Bei der von ihm angeschlagenen Schnelligkeit wurde mancher Ton nur flüchtig angeschlagen, aber was tut’s.
Ihm lag mehr die spieltechnische Seite und Sachlichkeit. Mit der jazzbetonten „Konzertetüde“ Nr. 8 (op. 40) von Nikolai Kapustin (*1937) blieb er bei den russischen Komponisten. Als „Symbiose“ aus Virtuosität und jazzigen Rhythmen begeisterte er damit in seiner temperamentvollen Art das Publikum. Technik und Gestaltung ließen bei den Schülern noch die sehr unterschiedlichen Stilrichtungen ihrer Lehrer erkennen, aber irgendwann werden diese jungen Leute ihren eigenen Weg und ganz persönlichen Stil finden. Bei diesen, schon sehr reifen Leistungen muss man sich um den pianistischen Nachwuchs und das Fortbestehen der Musik aus Barockzeit, Klassik und Romantik bis hin zur Moderne keine Sorgen machen. Mit diesen talentierten jungen Musikern werden die besten musikalischen Traditionen weiterleben.
Zu den guten Traditionen der Köthener Bachfesttage gehört auch eine Exkursion zu einem kulturhistorischen Ort der Umgebung. Dieses Mal war es das historische Goethe-Theater in Bad Lauchstedt, das äußerlich schon die Zeichen der beginnenden Restaurierung trägt. Zu einzelnen Sätzen aus Bachs „Suiten für Violoncello solo, gespielt von Thomas Demenga tanzte Bettina Castano Flamenco mit den richtigen Flamenco-Figuren und in immer wieder neuen, farblich wirksamen Flamenco-Roben. So richtig konnte sie jedoch ihr tänzerisches Temperament zu Bachs gleichmäßig vorgetragenen Tanzsätzen aber dann doch nicht entfalten, da eben diese Suiten keine eigentliche Tanzmusik sind und Bach eher ein bodenständiger deutscher Typ war, der sich zwar auch mit italienischer und französischer Musik, aber nicht mit spanischer beschäftigt hat. Alles passt eben doch nicht zusammen. Interessant war aber die alte Bühnentechnik, die Lust auf eine Oper machte.
Als kleine hübsche Zutat wurden die Besucher bei manchen Veranstaltungen von jungen Leuten in hübschen Rokokokostümen empfangen, was den Bachfesttagen einen zusätzlichen Reiz verlieh. Diese Festtage waren ein grandioser Abschluss der Ära Schäfer. Nun kann man gespannt sein, wie es weitergehen wird.
Ingrid Gerk