Hsg. Klaus Dermutz, Friedemann Kreuder
KLAUS MICHAEL GRÜBER – HOMO VIATOR
ARCHIVALIEN UND NEUE TEXTE
Manuscripta theatralia – Band 003
381 Seiten, Verlag Böhlau, 2021
Theaterfreunde wissen es: Der Regisseur Klaus Michael Grüber war an der Berliner Schaubühne lange Zeit der zweite Mann neben Peter Stein – oder besser: hinter Peter Stein. Und das selbst gewählt. Seine Vertraute Ellen Hammer formulierte es einmal in einer Dankesrede anstelle des mit einem Preis geehrten Grüber: „Sein Metier, wie er es versteht, besteht darin, Menschen, Dinge, Gefühle, Gedanken, Erinnerungen auf der Bühne sichtbar und fühlbar werden zu lassen, ohne selbst im Rampenlicht zu stehen.“
Dennoch – zu seinen Lebzeiten hat man Klaus Michael Grüber in der Theaterwelt in hohem Maße wahrgenommen. Der Deutsche, der lieber in Frankreich lebte, inszenierte an vielen Orten Europas, zweimal auch am Wiener Burgtheater (2001 Roberto Zucco von Koltes im Akademietheater, 2003 Ödipus auf Kolonos von Sophokles im Burgtheater selbst), und mehrere seiner Operninszenierungen gastierten bei den Wiener Festwochen. Seine Arbeiten waren nicht immer leicht zu „lesen“, aber stets hoch eindrucksvoll. Das deutsche Feuilleton bewunderte ihn – Verrisse (wie gleich bei seiner ersten Inszenierung in Mailand) waren eher selten.
Grüber, der 1941 in der Kleinstadt Neckarelz geboren wurde, eines von vier Kindern einer Pastorenfamilie, starb 2008 in Frankreich, in der Bretagne, neben Paris seinem bevorzugten Aufenthaltsort. Zwischen 1967 und 2006 spielten seine Inszenierungen in der europäischen Theaterszene mit. Sein Nachlass wird von seinem älteren Bruder Martin Grüber verwaltet und befindet sich in der Berliner Akademie der Künste. Nun haben der Journalist Klaus Dermutz, dessen erhellende Interviews mit Grüber sich in dem Buch befinden, und Friedemann Kreuder, Professor für Theaterwissenschaft in Mainz, einen Erinnerungsband an Klaus Michael Grüber herausgegeben.
Der Titel „Homo Viator“ ist vielschichtig – einerseits bezieht er sich auf Grüber selbst, der sein Leben lang ein Viator, Wanderer war und nirgends bleiben wollte (am wenigsten in Berlin, der Schaubühne ungeachtet), andererseits auch auf sein besonderes Interesse für Menschen, die vertrieben wurden, denen er schon in seiner Kindheit begegnet ist. Er hat diese Problematik undogmatisch immer wieder in einzelne seiner Inszenierungen eingebracht.
Man konnte auf reiches biographisches (viele Fotos aus Familienbesitz) und zusätzlich interpretatorisches Material zurückgreifen. Man erfährt viel über Herkunft und Familie, die Eltern selbst haben ihre Erinnerungen niedergeschrieben. Der Vater wurde früh eingezogen und kam erst nach achteinhalb Jahren, in denen seine Frau vier Kinder allein aufziehen musste, wieder zurück, gezeichnet von den Entbehrungen und Demütigungen von Krieg und Gefangenschaft. Dennoch weiß Klaus Michael Grüber von einer behüteten Kindheit zu erzählen – und nichtsdestoweniger von dem Wunsch, das kleinstädtische Milieu zu verlassen.
Man erfährt, wie Grüber in der Schauspielschule Stuttgart von seinem Lehrer Siegfried Melchinger gefördert wurde – dieser hatte in seiner Eigenschaft als Kritiker Giorgio Strehler in Deutschland bekannt gemacht, konnte also etwas vermitteln. Etwa für Grüber, auf den er setzte, einen Platz in Strehlers Mailänder Schauspielschule, was dann in einen Assistentenjob über ging. Italienisch lernte man, meinte Grüber, sehr schnell, wenn man bei den Proben ununterbrochen Italienisch, gesprochen von den besten Schauspielern, hörte… Privat war ihm Paolo Grassi, Strehlers Direktor, näher als der große Mann selbst, dem er allerdings viel verdankte – nämlich, was von ihm zu lernen war.
Wie man aus den Formulierungen der Interviews entnimmt, hatte Grüber nie Mühe, Orte und Menschen hinter sich zu lassen. Als der Ruf aus Bremen kam, wo Intendant Kurt Hübner alles versammelte, was später berühmt werden sollte (Zadek, Minks und Palitzsch Neuenfels, Schaaf oder Fassbinder), zählte auch Grüber zu den Talenten, die er erkannte und förderte. Grüber machte schnell Karriere, inszenierte in vielen Städten, aber er blieb nirgends lange, nicht einmal an der Schaubühne in Berlin, wo er seine Gefährtin Ellen Hammer kennen lernte.
Das Buch sammelt Material aller Art, Probenberichte, Briefe (immer wieder bewundernde von Peter Stein), versuchte Einordnungen (etwa Grüber, der eine zeitlang Alkohol und Drogen nicht verschmähte, als Geschöpf der Beatnik-Generation). Grüber, der undogmatisch und theorielos nie mit dem Polit-Theater Mainstream mitmachte, hätte sich gerne dem Film zugewandt, aber da blieb es bei Ansätzen. Dass er vom Sprechtheater so mühelos zum Musiktheater wechseln konnte, wird an einer Stelle auch damit begründet, dass er in der Jugend so gerne Trompete spielte… vor allem Bach.
Der Anhang bietet eine penible, bis in die kleinsten Rollen genaue Aufzählung seiner Theater- und Opernarbeiten. Es hat lange gedauert nach seinem Tod, mehr als ein Jahrzehnt, bis diese Würdigung erschien, aber sie kommt nicht zu spät. Theaterfreunde, die dabei waren, erinnern sich noch.
Renate Wagner