KASSEL/ Staatstheater: CABARET – Musical von John Kander/ Fred Ebb
29.1.2022 (Werner Häußner)
Copyright: Nils Klinger
Die Uhr tickt allgegenwärtig. Doch noch glühen die Lichter der Großstadt verheißungsvoll, pulsiert das Leben, arrangieren sich Boys und Girls ununterscheidbar zur adretten Tanznummer, versucht ein Conférencier mit schalen Witzchen sein Publikum in Laune zu bringen. Noch. Aber die „neue Zeit“ schleicht sich ein, erst unmerklich, dann immer sichtbarer, bis ihr Symbol, das Hakenkreuz, offen auf einer blutroten Armbinde prangt.
„Cabaret“ fängt mit der Musik von John Kander und den Songtexten von Fred Ebb den Geist der Weimarer Zeit in seinem ruhelosen Rhythmus und seinen frechen wie sentimentalen Melodien ein. Joe Masteroff verarbeitet die Erzählungen eines tatsächlichen Berlin-Beobachters von damals, Christopher Isherwood, in einer berührenden Geschichte, in der das fiebrige Treiben zu Beginn der dreißiger Jahre überdeckt, wie sich viele Menschen auf kleiner Flamme durchschlagen müssen. Es ist eine Geschichte von Hedonismus und Verdrängung, von Not und Glamour, von Hoffnung und Enttäuschung. Doch vor allem schildert das Musical, wie sich mit Druck und Dreistigkeit eine Gesellschaft kapern lässt, die permanent wegschaut und den Unernst zum Prinzip erhoben hat – „Cabaret“ eben.
Die Inszenierung von Henriette Hörnigk, ursprünglich 2019 für Sebastian Hannaks „Raumbühne“ an der Oper Halle konzipiert, jetzt für das Staatstheater Kassel an den Guckkasten (Claudia Charlotte Burchard) angepasst, startet im „Kit-Kat-Club“, einem allegorischen Ort zügellosen Vergnügens, wo nichts ernst genommen und alles am Ende todernst wird. „Jeder sollte so leben, wie er will“, gibt der Star der Show, Sally Bowles, die Parole aus, bevor ihr selbst durch ihren Rausschmiss klar gemacht wird, wo die eisernen Gesetze des Erfolgs die Grenze ziehen. Henrike Engel steckt die Tanzenden in amüsant antiquierte hautfarbene Unterwäsche, spielt in Show-Kostümen mit den Farben Schwarz-Rot-Gold, zeigt Gespür für modische Details der Zeit und steckt den kleinen Schmuggler, der ein großer Nazi werden will, in ein braunes Hemd unter dem Anzug, schon bevor seine Gesinnung allen offenbar wird. Symbolhaftes spielt also eine wichtige Rolle, und wenn am Ende ein goldenes Gefährt – halb römischer Triumphwagen, halb Karnevalskarre – hereinrollt, steigert sich die Bühne ins Parabelhafte.
Die Stärke der Szene liegt in der geschickten Nutzung des schmalen Streifens zwischen dem Orchester in der Tiefe der Bühne und dem Graben, in dem stumme Puppen an Bistrotischen dem Geschehen folgen. Dominik Büttners Choreografien schlängeln sich geschmeidig um die Handlungsorte herum, arrangieren sich zu gelungenen Bildern, so in „Money makes the world go round“ mit einer präzis gestellten finalen Skulptur aus Menschenleibern und goldenen Münzen. Hörnigk, Regisseurin am neuen theater Halle, verzahnt die üppigen Bilder mit den intimen Momenten, lässt eines aus dem anderen herauswachsen, schafft Konstellationen, in denen die zunehmende Beklemmung greifbar wird.
Nicht immer will es gelingen, den sämtlich aus Halle gastierenden Darstellern die ambivalenten Facetten ihrer Charaktere abzuringen. Florian Krannichs Conférencier ist eine anziehend-anzügliche Erscheinung, seinen maliziösen, flachen Humor spielt er hämisch und frivol aus. Aber den dämonischen Zug des Strippenziehers lässt er vermissen; statt schillerndes Rätsel bleibt er zu sehr tuntiger Ansager. Die brillant singende Jasmin Eberl hat ihre Stärken in den Momenten forscher Selbstsicherheit, auch in ihrer Sehnsucht nach ein bisschen Sicherheit wirkt sie glaubwürdig. Ihre inneren Kämpfe vor der Abtreibung ihres Kindes, ihr hartnäckiges Verdrängen der hereinbrechenden Ideologie sorgen für Momente der Beklemmung. Eine durch und durch reflektiert gestaltete Rolle.
Nils Thorben Bartling hat nicht das Glück, von seiner Rolle als Schriftsteller Cliff Bradshaw begünstigt zu werden. Als Amerikaner, der sich zunächst naiv in die Atmosphäre Berlins hinein tastet, bleibt er blass, aber im angewiderten Rückzug angesichts der braunen Umtriebe läuft er zu großer Form auf. Barbara Schnitzler weckt als Fräulein Schneider schon in ihrem Eröffnungssong mitfühlende Sympathie, bringt in ihrer Stimme die leise Resignation, die Verletzungen durch das Leben zum Klingen. Die feinsinnige Koketterie mit ihrem Nachbarn, Herrn Schultz, das ungläubige Staunen über ein mögliches spätes Glück, schließlich der aus Erfahrung von Not geborene pragmatische Entschluss, der Drohung der Nazis zu weichen und auf die Heirat mit dem jüdischen Obsthändler zu verzichten, sind die Facetten, mit denen sie das Geschick der „kleinen Leute“ exemplarisch erfahrbar macht. Matthias Brenner ist der Bewerber um ihre Gunst, ganz bescheidener Kleinbürger, dessen Leidenschaftsausbruch in seinem jüdischen Lied vom „Miesnick“ fatale Folgen haben wird.
Harald Höbinger verkörpert als kleiner Gauner Ernst Ludwig unheimlich treffend, wie aus einem Mann ohne Eigenschaften ein pöbelnder, selbstgefälliger Parteigenosse wird. Und Nora Schulte häutet sich als Fräulein Kost vom billigen Matrosenflittchen zum glamourösen Nazi-Weibchen, das im Volkslied-Ton den „morgigen Tag“ für sich vereinnahmt. Dass diese junge Frau die blanke Not zu ihrem Gewerbe getrieben hat, wird allerdings zu wenig akzentuiert. Das Orchester hinter der Szene, von Peter Schedding zu zündenden Impulsen geführt, lässt den Weimar-Sound, aber auch die amerikanischen Anklänge in Kanders Musik glänzen. Das Arrangement (Chris Walker) verflacht in einigen Momenten die Musik eher, als dem glitzernden, farbenreichen Zwanziger-Jahre-Sound Kontur zu geben.