Premiere „Das Tagebuch der Anne Frank“ von Grigori Frid am 3. Mai 2021 im Staatstheater als Stream/KARLSRUHE
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„Das Tagebuch der Anne Frank“ im Staatstheater Karlsruhe – Europäische Kulturtage Karlsruhe – Stream
Die Ideale zerbrechen
Diese Oper des russischen Komponisten Grigori Frid gibt den Aufzeichnungen der Anne Frank einen ebenso intimen wie expressiven Charakter. Auch die filmische Umsetzung von Regisseur Patrick Seibert lässt das Geschehen im holländischen Exil packend lebendig werden. Die junge türkische Sopranistin Ilkin Alpay macht die enormen dynamischen Spannungen dieser zwischen Schostakowitsch und Schönberg hin- und herschwankenden Musik eindrucksvoll deutlich. Lapidare Thematik setzt sich hier durch, wobei wuchtige Akkord-Schläge oftmals auffallen. Ostinato- und Staccato-Passagen wechseln sich dabei in facettenreicher Weise ab. Es gibt aber auch versteckte Jazz-Rhythmen, die die starke Lebendigkeit dieses ungewöhnlichen Werkes unterstreichen. Insgesamt auffallend sind in jedem Fall die gewaltigen Intervallspannungen, die an die Sängerin große Anforderungen stellen. Und Ilkin Alpay macht auch die unaufhörlichen Verwandlungen in dynamischer Hinsicht in bemerkenswerter Weise deutlich. Geisterhafte Klangflächen und chromatische Eruptionen wechseln sich hier in rasanter Weise ab, verdeutlichen den beklemmenden Charakter dieser ungewöhnlichen Situation. Die Worte „Freiheit“, „Liebe“ und „Revolution“ werden von Ilkin Alpay alias Anne Frank an die Wand geschrieben. Man sieht ein fahles Zimmer, spürt die Angst des jungen Mädchens vor der Gestapo, erlebt seine erste Liebe mit Peter in berührender Weise mit. Sie sinnt darüber nach, wie es ist, einen Jungen zu küssen.
Die Ideale zerbrechen hier auch musikalisch, das verdeutlicht die Pianistin Virginia Breitenstein ganz ausgezeichnet. Das Schicksal einer von den Nazis verfolgten Familie und das Seelenleben eines ungewöhnlich begabten Mädchens korrespondieren bei diesem Werk in sensibler Weise. Anne Frank muss heimlich auf den Speicher des hässlichen Hinterhauses in Amsterdam schlüpfen, in dem sich ihre Familie verborgen hält. Aus diesem Gefängnis möchte sie natürlich ausbrechen, was an der Realität scheitert. Grigori Frids Musik nimmt an dem tragischen Geschehen um Anne Frank in bewegender Weise Anteil. Erschütternd sind vor allem die letzten, fast sphärenhaften Takte dieses Werkes, die den furchtbaren Abtransport schildern. Die Familie wurde in Amsterdam schließlich entdeckt und im August 1944 ins Konzentrationslager gebracht. Im März 1945 starb Anne Frank im Vernichtungslager Bergen-Belsen. Barbara Dussler (Stimme) rezitiert zuletzt Paul Celans „Todesfuge“: „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“.
Diese Koproduktion mit dem Staatstheater Cottbus in der deutschen Adaption von Ulrike Patow berührt als ein gewichtiger Beitrag der diesjährigen Europäischen Kulturtage Karlsruhe.
Alexander Walther