Händel-Festspiele in Karlsruhe: „Der Sieg von Zeit und Wahrheit“ von Georg Friedrich Händel und „Der Sieg von Schönheit und Täuschung“ von Gerald Barry
(Vorstellung: 21. 2. 2013)
Die junge Sopranistin Anna Patalong stellte in Händels Oratorium die Schönheit dar (Foto: Falk von Traubenberg)
Georg Friedrich Händel war 22 Jahre alt, als er in Rom sein erstes Oratorium schrieb, in dem sich drei allegorische Figuren um Bellezza, die Schönheit, streiten:
lebt man für das Vergnügen oder für die Wahrheit? Dieses Werk, dessen Libretto der römische Kardinal Benedetto Pamphilj verfasste und in dem sich am Ende die
Schönheit auf die inneren Werte besinnt und dem Vergnügen Adieu sagt, wurde am 28. 1. 2013 mit großem Erfolg im Theater an der Wien konzertant aufgeführt
(siehe die Rezension im Online-Merker vom 29. 1.).
Nun kam (in englischer Sprache mit deutschen Übertiteln) die von Händel fünfzig Jahre später komponierte englische Fassung mit dem Titel „The Triumph of
Time and Truth“ am Badischen Staatstheater in Karlsruhe zur szenischen Aufführung , wobei sie mit der Oper „The Triumph of Beauty and Deceit“ von Gerald Barry gekoppelt wurde, in der der irische Komponist eine moderne Antwort gibt. Wieder versuchen Zeit und Wahrheit, die Schönheit einzuschüchtern. Doch diesmal gewinnt Vergnügen mit Hilfe von Täuschung. Gibt es eigentlich eine freie Willensentscheidung über die richtige Lebensführung? Diese Diskussion wird man wohl ewig führen können…
Händel überarbeitete im Jahr 1737 sein Frühwerk, tauschte etliche Nummern durch Stücke aus anderen Werken sowie durch Neukompositionen aus und ersetzte die tiefsinnige Bezeichnung „Disinganno“ durch das eindeutige „Verità“. Zwanzig Jahre später, als der Komponist bereits erblindet war, überarbeitete er das Oratorium mit Hilfe eines Assistenten neuerlich, wobei Pfarrer Thomas Morell den Text in englischer Sprache neu schrieb, sodass auch alle Rezitative neu komponiert werden mussten. Aus der Erstfassung blieben dreizehn Nummern erhalten, aus der Zweitfassung neun und aus verschiedenen anderen Werken kamen zehn dazu, darunter auch mehrere Chorsätze, die in der Karlsruher Aufführung jedoch gestrichen wurden. Es kam allerdings eine fünfte allegorische Figur hinzu: Deceit, die Täuschung, die das Vergnügen unterstützt und die Schönheit manipuliert.
Sam Brown verlegte Händels Oratorium in die heutige Zeit und ließ es zuerst vor einer breiten Spiegelwand wie in einem Schönheitssalon (Bühne & Kostüme: Annemarie Woods) spielen, was noch einer gewissen Logik entsprach, danach allerdings in einem Großraumbüro mit Sekretärinnen, was im Laufe des Abends eher verstörend wirkte. Er inszenierte beide Werke sehr dramatisch, wobei er nicht gerade die feine Klinge führte. Kein Wunder, dass in Händels Werk die Schönheit schließlich ins Kloster flüchtet! In Barrys Oper (Libretto: Meredith Oaks), in der ein schonungsloser Wettkampf um die Schönheit zwischen Zeit und Wahrheit auf der einen Seite und Vergnügen und Täuschung auf der anderen Seite stattfindet, übertrieb der Regisseur die Darstellungen der erotischen und sexuellen Szenen, die schließlich in pure Gewalt mündeten (Choreographie: Lorena Randi). Die weibliche Statisterie des Badischen Staatstheaters wurde jedenfalls von der Regie ziemlich gefordert.
Es war für die Badische Staatskapelle unter der Leitung von Richard Baker gewiss nicht einfach, diese beiden musikalisch so unterschiedlichen Werke hintereinander darzubringen. Leider ging bei Händels Oratorium die Sinnlichkeit seiner Musik verloren, stattdessen kam eine Eintönigkeit zum Tragen, die dem Werk nicht gerecht wurde. Dafür durfte sich das Orchester bei Barrys schrill tönender Partitur, die alle Emotionen der allegorischen Figuren – von Liebesschmerz über Wehklagen bis hin zur Wut – auf musikalisch hochdramatische und exzessive Weise wiedergibt, austoben.
Der junge australische Bass Joshua Bloom sang in beiden Werken die Zeit und erhielt für die stimmliche und darstellerische Gestaltung seiner Rollen verdienten Szenenapplaus. Ebenso der britische Countertenor William Purefoy, der die Wahrheit gleichfalls in beiden Werken mit großem Einsatz spielte. Die hübsche englische Sopranistin Anna Patalong war in ihrer Rolle als eitle Schönheit nicht zu beneiden. Von allen allegorischen Figuren außer der Täuschung heftig drangsaliert, bleibt ihr nur als letzter Ausweg, ihren Schutzengel zu bitten, sie auf den Weg der Tugend zu führen. Stimmlich gelang es ihr, den Schluss ihres Parts äußerst innig darzubringen. Die Figur der Täuschung wurde von der Mezzosopranistin Stefanie Schaefer ausdrucksstark und humorvoll gespielt, das Vergnügen war beim deutschen Tenor Sebastian Kohlhepp, der in der kommenden Spielzeit dem Ensemble der Wiener Staatsoper angehören wird, stimmlich und schauspielerisch in „besten Händen“.
In Barrys Oper wird die Schönheit von einem Mann dargestellt – im Zeitalter der Gleichberechtigung nachzuvollziehen. Der in der Interpretation zeitgenössischer
Musik sehr gewandte amerikanische Tenor Peter Tantsits spielte seine Rolle mit bewundernswertem Einsatz und klangschöner Stimme. Die Rolle der Täuschung
gab der spanische Bariton Gabriel Urrutia Benet mit seiner dunkel timbrierten Stimme recht eindrucksvoll. Das Vergnügen gestaltete der britische Countertenor Iestyn Morris auf ironische Art und Weise. Er verscheucht die Zeit mit den Worten: „Es heißt, die Zeit enteilt auf goldenen Schwingen.“ Schließlich vereinigen sich Vergnügen und Schönheit und singen innig: „Bis zum Morgen werd’ ich dich neunmal besessen haben!“
Ein Teil des Publikums ergriff bei Barrys Oper die Flucht, ein anderer spendete den Interpreten und dem Orchester sowie seinem Dirigenten einen kurzen Höflichkeitsapplaus, ein dritter, vermutlich jugendlicher Teil, bejubelte am Schluss die Vorstellung minutenlang. Der Rezensent dachte mit Wehmut an die
hohe musikalische Qualität der von René Jacobs dirigierten Aufführung von Händels Erstfassung des Oratoriums am Theater an der Wien vor drei Wochen.
Udo Pacolt, Wien – München