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KARLSRUHE: DER VETTER AUS DINGSDA

09.03.2013 | KRITIKEN, Oper

Karlsruhe: „DER VETTER AUS DINGSDA“ – 08.03.2013 – Werner Häußner

 Familie Kuhbrot hat eine Leiche – nicht im Keller, aber in einer Truhe. Und Herr Egon von Wildenhagen, vergeblich verliebter Landratssohn, ist etwas zu wissbegierig. Die Folgen sind mörderisch. Bernd Mottl nimmt in seiner Regie am Staatstheater Karlsruhe den Plot von Eduard Künnekes „Der Vetter aus Dingsda“ ziemlich genau unter die Lupe und entdeckt Details, die der Geschichte eine düster-überraschende Wendung geben. Kein biederes Alt-Berliner Tralala, sondern ein Krimi, getaucht in gruslig-geheimnisvolles Schwarz-Weiß.

Edgar Wallace war Vorbild; und die Bühne Friedrich Eggerts bezieht sich in ihren Ritterbildern an der Wand, der Rüstung im Eck, einer unheimlichen Standuhr, gotischen Bögen, drohend altertümlichen Leuchtern und einer klassischen englischen Krimi-Treppe zum Obergeschoss ohne Umschweife auf die wohlig-grausig-lausigen B-Movies der sechziger Jahre. Der Buffo-Tenor – Max Friedrich Schäffer ist ein rundum überzeugender Vertreter dieses fast ausgestorbenen Fachs – mutiert zum Eddi Arent der Operette; der geheimnisvolle Fremde tritt in Klaus-Kinski-Aschblond durch ein nebelumwabertes Portal in das „Zauberschloss“.

Mottl – dessen Name tatsächlich auf Verwandtschaft mit dem legendären Karlsruher Hofkapellmeister und in Bayreuth geschätzten Wagner-Dirigenten Felix Mottl verweist – tut der Operette keine Gewalt an: Der Schauplatz resultiert nicht aus krampfhaftem Alles-Anders-Machen, sondern aus einer scharfsichtigen Interpretation dessen, was das Libretto andeutet, aber nicht erklärt: Wo ist Julias verschwundener Bruder Kurt, in dessen Zimmer der „arme Wandergesell“ einquartiert wird? Warum ging Roderich nach Batavia? Und Mottl findet „Lösungen“ ganz nach Art der schwarz-weißen Straßenfeger von einst: Das nebensächliche Detail wird zum Schlüssel der Aufklärung.

Der Regisseur verlässt auch mit seinen Bühnenfiguren die biederen, vorhersehbaren Chargen des versüßlichten Operetten-Klischees, das sich nach 1933 unter dem „reinigenden“ Einfluss der Nazis durchgesetzt und nach 1945 ungeniert bis zur Beinahe-Exekution der Sparte Operette weitergepflegt wurde. Die Diener Hans (Frank Wöhrmann) und Karl (Eric Rentmeister) sind skurrile Halb-Gespenster, die ganz im Sinne der mechanischen „Zaubermusik“ Künnekes in automatenhafte Gesten verfallen. Hannchen ist das zigarettenrauchende Girlie der Zwanziger, das seine Bevormundung gründlich satt hat. Onkel und Tante – die gnadenlos komisch outrierende Rebecca Raffell und der tapsig-durchtriebene Tero Hannula – sind in ihrer Verbindung von schräg doof und boshaft durchtrieben eher verwandt mit Offenbachs König Bobèche als mit dem gemütvollen Paare Josse und Wimpel aus dem Weimarer Nachkriegs-Spießermilieu.

Während das Licht Rico Gerstners nie wirklich hell macht und in seinen sattgrellen Farben manchmal an die Rocky-Horror-Show erinnert, gibt es im Orchestergraben eine Erleuchtung ganz eigener Art: Florian Ziemen, der an seinem Stammhaus Gießen im Herbst Abrahams „Viktoria und ihr Husar“ musikalisch rehabilitiert hat, nimmt sich in Karlsruhe nun des „Vetters“ in einer historisch-kritischen Lesart an. Er hat die autographe Partitur aus Künnekes Nachlass in Berlin eingesehen und zeitgenössische Film- und Plattenaufnahmen gesichtet, um sich so nah wie möglich an den ursprünglichen Sound der Operette heranzuarbeiten.

Das Ergebnis ist – ähnlich wie in Gießen – überwältigend: Nichts mehr von der sentimentalischen Himbeersoße der Bearbeitungen, die wir auf so gut wie allen Aufnahmen zu hören bekommen. Sondern ein reich differenziertes Klangbild, moderne harmonische Reibungen im vielfältig ausgearbeiteten Orchestersatz, farbiger Einsatz von Bläsern und Schlagwerk, rhythmisch geschärfte, swingende Artikulation, klare Konturen und die zündende Erotik der Modetänze von 1921. Das Karlsruher Orchester ist in allem voll dabei und Künnekes Anliegen gewachsen.

Ziemen hat diese Revitalisierung der Operettenmusik wunderbar eingerichtet – und Nachdirigent Steven Moore setzt sie auch adäquat um. Lediglich mit den Rubati und mit der Koordination zwischen Bühne und Graben hapert es in der besuchten Vorstellung. Und mit den schwärmerischen, sinnlich-erotischen Bögen etwa von Julias Auftrittslied an den „strahlenden Mond“ oder dem lasziven Tango mit der bezeichnenden Botschaft an das „Kindchen“, doch nicht so schrecklich viel zu denken, hat Moore seine Probleme: Da fehlt ihm die lockere Hand; der Drang zum präzisen Musizieren bricht durch. Das will und braucht die Operette aber nicht: Ihre Musik lebt aus der souveränen Lockerheit und der emotionalen Pointe, die dem Darsteller überlassen bleibt.

Damit ist auch das „hehre“ Paar von Künneke gefordert, denn neben dem frechen Batavia-Fox, bei dem Alfred Mayerhofers Kostüme an die Berliner Shows mit „Wilden“ und den legendären Bananenschurz der Josephine Baker erinnern, steht die sentimentale Note, der Augenblick des authentischen, wenn auch projizierten, Gefühls. Ina Schlingensiepen ist als Julia ein dicklicher Teenager mit Brille und einer glänzend auf die Bühne gebrachten Mischung aus pubertären Hemmungen und schlüpfrigem Drang. Aber ihrer silbrigen, etwas kopfigen Stimme fehlt die flutende Erotik einer erfüllten, körperhaften Tons. Wenn Operettenforscher Kevin Clarke meint, die ausgebildete Opernstimme sei nur in den wenigsten Fällen erforderlich: Hier kommt es darauf an!

Auch der Fremde hat in seiner weltberühmt gewordenen Saga vom „armen Wandergesell“ schimmernde Erotik in flexiblen tenoralen Linien zu präsentieren. Und hierin ist Steven Ebel mit einer gut geführten, aber eher trockenen Stimme überfordert. Das ist Andrew Finden als Roderich eindeutig im Vorteil: Er zeichnet den „echten“ Vetter eher als alternativen Weltenbummler, der sich um die Mond-Anrufungen der Kleinmädchen-Romantik Julias herzlich wenig schert. Ihn zieht es auch zu Hannchen hin; bei Christina Bock eine sexy „Göre“ mit einer feinen, klaren, manchmal aber zu resonanzarmen Stimme. Wie überhaupt – dies sei der Sprachcoach Cornelia Matthes gesagt – gestütztes Sprechen und die leicht überdrehte Deklamation des Genres noch ein großes Desiderat bei der Wiedererweckung der Operette bleibt.

Der Karlsruher „Vetter aus Dingsda“ macht jedenfalls Appetit auf weitere Leckereien aus der Haute Cuisine der Operette. Und es zeigt sich, dass das Genre nicht so schal und abgestanden schmecken muss, wie es viele Befürworter in falschem Traditionalismus pflegen und viele Gegner als Vorwand für das Verdikt künstlerischer Belanglosigkeit benutzen. So inszeniert, so gespielt hat die Gattung eine Riesenchance. Karlsruhe und Gießen haben sie genutzt und gezeigt, dass an großen wie an kleinen Theatern ein Operettenwunder möglich ist. Voilá, weiter so!

 Werner Häußner

 

 

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