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KARLSRUHE/ Badisches Staatsballett: GISELLE – Raum und Zeit enthoben in musikalischer Transparenz. Premiere

Badisches Staatsballett Karlsruhe: „GISELLE“ – 19.11.2022 (Premiere) – Raum und Zeit enthoben in musikalischer Transparenz

giselle finalszene 1.akt karlsruhe 19.11.2022
Finalszene des 1.Aktes mit dem Ensemble. Copyright: Yan Revazov

Bis vor zehn Jahren hatte die Karlsruher Compagnie noch Peter Wrights klassische Choreographie dieses rein stofflich betrachtet ur-romantischen Balletts im Repertoire – jetzt holte die derzeitige Direktorin Bridget Breiner eine Fassung ans Haus, die sie selbst während ihres vorübergehenden Wirkens in Dresdens Semperoper-Ballett kennen gelernt hatte. Somit also eine Übernahme von dort, die aber doch für alle jetzt daran Beteiligten eine richtige Premiere ist. Der vielfach international als Tänzer und später als Choreograph renommierte Brite David Dawson wollte am Ende seiner Tänzerlaufbahn diesem Stück und seiner Geschichte näher auf den Grund gehen. Das Ergebnis war/ist eine aus dem Kontext des 19. Jahrhunderts heraus gelöste, hinsichtlich Ort und Zeit völlig freie Erzählung. Auf Basis der klassischen Schule, aber ohne die strengen Vorgaben der Tradition und ihrer virtuosen Auswüchse, sollten die Figuren unserer Zeit näher rücken und zugänglicher gemacht werden. Gespiegelt wird dieser Ansatz in einem leeren Bühnenraum, dessen Architektur aus geschwungenen Linien und Formen die Akteure im Sonnenlicht des 1.Aktes unweigerlich ins Zentrum befördert oder sie im Dämmerlicht des 2.Aktes vor verdunkelter Mondscheibe wie in einer unendlichen Weite wirken lässt (Bühne: Arne Walther). Yumiko Takeshimas Kostüme grenzen die weltliche Ebene mit zart farbig duftig leichten Kleidern und Hemden vom Geisterreich der Wilis in weißen Trikots mit Schleiern ab. Dawson verzichtet zwar auf Tutus, aber nicht auf das elementar wesentliche Spitzenklöppeln, das diesen vor der Hochzeit gestorbenen Frauen den Schwebezustand ihres fiktiven Wirkens verleiht. Auch vor Giselles Tod sind ursprüngliche Figurationen in Dawsons fließenden Stil mit auffallend bedeutungsvollem Einsatz der Arme eingebunden, ohne das sonst gewohnt Virtuose hervor zu heben. So bekommt auch der Reigen der Wilis mit erweitertem Fluss der Arme und unter weitgehendem Verzicht auf ausgreifende Arabesque-Balancen einen weniger strengen Einschlag. Die Handlung wird schlicht, aufs Wesentliche konzentriert erzählt, mit Blüten- und Blumensymbolik als quasi einzigem Requisit (Kirschblüten, die sich bei Giselles Tod rot färben und Lilien, zuerst Geschenk, dann Fruchtbarkeits-Merkmal in den Händen der Wilis), sie bindet auch stärker als in traditionellen Choreographien die Albrecht versprochene Bathilde ein, so dass aus der klassischen Dreiecksgeschichte ein Quartett von allesamt verändert aus Giselles Tod hervor gehenden jungen Menschen wird.

Die Transparenz der Choreographie findet ihre Entsprechung in einer musikalischen Fassung und Einstudierung, die wieder ganz auf Adolphe Adams einstige Komposition zurück geht und all das eliminiert, was an Ergänzungen durch Musik anderer Komponisten, eine verwässerte oder verdickte Instrumentierung und Tempoveränderungen im Laufe der Zeit zu einer verfälschten Klangstruktur geführt hat. David Coleman zeichnet für dieses entspeckte Arrangement verantwortlich, in dem Adams klassischer Stil mit erlesenem Einsatz der teilweise doppelt besetzten Holzbläser, einer Harfe beim Auftritt der Wilis und einem differenzierteren Streichersatz wieder klar hervor tritt. Wenn all das noch mit so viel Liebe zum Detail, mit belebender Kraft für den ersten und streichelnder Sensibilität für den zweiten Akt um gesetzt wird wie von der Badischen Staatskapelle unter der Leitung des voll auskostenden und dabei immer mit den TänzerInnen korrespondierenden Johannes Willig, darf von einer musikalischen Sternstunde die Rede sein, wie sie im Ballett-Geschehen leider nur allzu selten geschieht.

Die choreographisch-musikalische Klarheit wird durch die Zeichnung der vier Hauptcharaktere als heutige Menschen wie Du und ich ergänzt. So ist Giselle kein zart anmutiges Hascherl, sondern eine durchaus selbstbewusste junge Frau, die auf eine wahre Liebe fixiert ist und durch Albrechts Täuschung einen todesähnlichen Schock erleidet. Sophie Martin, vom Scottish Ballet ganz neu ins Ensemble gekommen, entspricht genau den Vorgaben mit ihrem durchaus kraftvoll sonnigen, lebensfreudigen Wesen und einer Technik, die Klassik und erweiternde Elemente spielerisch in Übereinstimmung bringt sowie sich als Wili mit expressiver Präsenz von ihren Leidensgenossinnen abhebt.

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Sophie Martin (Giselle) und Joan Ivars Ribes (Albrecht) im zweiten Akt. Copyright: Yan Revazov

Der noch blutjunge Spanier Joan Ivars Ribes erfüllt den hier nicht aus Standesgründen in einen Konflikt geratenden, sondern auf seiner Suche nach einer befreienden Beziehung unbedacht zur Katastrophe beitragenden Albrecht mit charismatischer Haltung, feiner Mobilisierung klassischer Tugenden und berührend emotionaler körperlicher Aussagekraft, gipfelnd in dem so schlicht ergreifenden Zurückbleiben in einer Lichtsäule, kniend mit nach oben gestreckten Armen. Da hat einer in der Ruhe einer geisterhaft abstrahierten Welt wieder zu sich selbst und zum Frieden mit seiner Schuld gefunden. Ein ganz starkes Schlussbild!

Als brüderlich beschützender und später ganz auf Giselles Liebe setzender Jugendfreund Hilarion überzeugt Valentin Juteau mit knapp, aber eindeutig bemessener Rollengestaltung. Bridgett Zehr wiederum gibt der obwohl mit Albrecht verbundenen, mehrere Freier um sich scharenden Bathilde (in kontrastierend schwarzer Gewandung, die auch Albrecht unter seinem Hemd verbirgt) den Stolz einer schönen, hinter ihrem Auftreten Unsicherheit verbergenden, auf ihr Ego konzentrierten Frau.

Die Wilis führt Gina Scott als Gast mit durchaus königlicher Würde und ganz ausgeglichenem Wirken auf Spitze an, wobei das ihr folgende Corps ebenfalls alle Bewunderung für seinen so schwebend leichten und synchronen Einsatz verdient.

Anstatt des lieb gewonnenen, aber eben nicht zum Original gehörenden Bauern-Hochzeits-Pas de deux gibt es hier gleich einen lebensfreudigen Pas de cinq mit Lucia Solari als Braut, Pablo Octávio als Bräutigam, Joao Miranda als Trauzeugen sowie Momoka Kikuchi und Carolina Martins als Brautjungfern.

Dem restlichen Ensemble ein Pausschallob für seine das Geschehen füllenden Beiträge.

Auch so können Klassiker in die Zukunft geführt werden – mit Geschick, Konzentration auf das Wesentliche, Gefühl für musikalische Belange und einer bewahrten Ästhetik.

Anhaltender Jubel im vollen Haus! Zumindest an diesem Haus war die Normalität der Vor-Corona-Zeit wieder eingekehrt.

 Udo Klebes

 

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