Karl-Markus Gauß
DIE JAHRESZEITEN DER EWIGKEIT
Journal
320 Seiten, Paul Zsolnay Verlag, 2022
Er ist ein Flaneur durch das Leben, ein Beobachter, ein Schilderer, ein Kommentator. Treue Leser der essayistisch-feuilletonistischen Werke des Salzburger Schriftstellers Karl-Markus Gauß können nun seine Kommentare zu fünf Jahren nachlesen.
„Die Jahreszeiten der Ewigkeit“ (als Titel ein wenig hoch geschraubt) finden zwischen Mai 2014 bis zum Mai 2019 statt, dem 60. und 65. Geburtstag des Autors. Er hatte sich vorgenommen, in dieser Zeit Tagebuch zu führen, und er hielt es durch – und nicht einmal am Computer. 20 Hefte hat er „mit meiner auch von mir selbst nicht leicht zu entziffernden Handschrift“ gefüllt. Das Ergebnis sind impressionistische Auszüge daraus, vom Autor mit der Gattungsbezeichnung „Journal“ versehen. Sie sind nicht konkret datiert (was dem Leser manchmal, bei Ereignissen „zeitgenössischer Geschichte“, helfen würde), und auch keinesfalls thematisch geordnete. Gauß schiebt nur zwischen fünf größere Kapitel, die chronologisch zu folgen scheinen, vier „Intermezzi“ mit Schwerpunkten zu Themen wie Literatur, Menschen-Eindrücke, Reiseeindrücke dazwischen. Da verkürzt er seine Erkenntnisse manchmal auf einen aphoristischen Satz.
Sein 60. Geburtstag war am 14. Mai 2014, und Gauß benützte die Gelegenheit, zu Orten seiner Kindheit in Salzburg, wo er noch immer lebt, zu schlendern. Diese „Geburtstaginspektion im Revier meiner Kindheit“ gibt die Gelegenheit, gedanklich zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu surfen, und zweifellos ist es auch ein ganz persönliches, autobiographisches Buch, das man da in der Hand hält, denn der Autor erzählt viel über sich.
Er gibt nicht nur seine Ansichten preis (nicht nur zu Politik, sondern gewissermaßen zu Gott und der Welt), sondern erzählt auch von Erlebnissen auf Reisen (er ist allerorten sehr gefragt als Vorleser und Diskussionsteilnehmer), empört sich, dass ausgerechnet er, der sich immer so sehr für die Roma eingesetzt hat, von Roma in Berlin bestohlen wird, und er lässt den Leser gegen Ende an den wohl unsäglichen Schmerzen teilnehmen, die ein Bandscheibenvorfall mit sich bringt. Wenn er, viel zu oft, an den Gräbern von Freunden steht, erzählt er ganz persönliche Erinnerungen, und wenn er sich im Bus über Menschen empört, die ihre Gemeinheiten lautstark für alle von sich geben, fühlt man mit ihm. Kurz, auch wenn man ihm nie persönlich begegnet ist, ist man sehr nahe an diesem Karl-Markus Gauß.
2014 bis 2019. Das, was uns heute bewegt, Covid-19 und der russische Angriffskrieg auf die Ukraine, hätte sich damals noch niemand vorstellen können. Trotzdem waren es nicht wirklich ruhige Zeiten. Gauß hat sofort geahnt, was die Worte „Wir schaffen das“ bedeuten würden (und er erinnerte an das „Versprechen“ der DDR, Bürger ausreisen zu lassen – worauf diese am nächsten Tag die Mauer gestürmt hätten). Der Flüchtlingsstrom und das Problem Migration begleitet ihn und das Buch permanent, vollkommen nach dem humanitären Gesichtspunkt, aber auch klug genug, um zu wissen, dass es den „idealen Flüchtling an sich“, der sich wie ein liebevoller, dankbarer Kinoheld benimmt, nicht gibt, sondern dass sie den Einheimischen natürlich auch Probleme bereiten.
Dass man einerseits die Diversität der neuen Gesellschaft preist, andererseits nicht fragen darf „Woher kommst Du?“, denn die Herkunft ist ja keine Schande, sondern ein Gut – das versteht er nicht. Wie vieles andere in der neuen Welt der sozialen Medien auch, wo eine Frau fernsehpopulär wird, weil sie ihren Mann und ihre zwei Kinder bei einem Unglück verloren hat und das aller Welt erzählt. Und die Abgrenzung der Minderheiten durch sich selbst, während man die Ausgrenzung zu überwinden sucht? Gauß ist wohl nicht der einzige, der über einen Lesben-Friedhof den Kopf schüttelt. Aber wenn die Damen auch nach dem Tod unter sich sein wollen… so sei es.
Es waren Jahre der Weltpolitik, das tiefe Erschrecken, dass so etwas wie Donald Trump möglich war. Und bewegte Jahre der Innenpolitik, wobei Gauß – immer wieder als „wertkonservativer Linker“ bezeichnet, was aus seinen Ansichten mühelos hervorgeht – Sebastian Kurz sofort nach dessen steilen Aufstieg einen ebenso harten Fall prophezeite, womit er ja Recht behielt.
Man kann die Fülle der Themen nicht aufzählen, weil alles ihm zum Thema wird, und wenn er jemanden nicht mag (Norbert Hofer, die Pfaffen), dann sagt er es auch. (Was wird er in der nächsten Fünf-Jahres-Tranche seiner Betrachtungen über Herbert Kickl sagen?) Gauß vergisst nicht, lässt unter dem Staatsmann-Image von Henry Kissinger nicht verschwinden, was dieser im Namen der amerikanischen Regierung für Verbrechen begangen hat. Der Digitalisierung und „Roboter-isierung“ der Welt steht er kritisch gegenüber, den bewusst herbei geführten Untergang der Intellektuellen bedauert er zutiefst (schließlich ist er da selbst betroffen). Oft ist Gauß ein Zorniger, manchmal auch nur ein Spötter (wenn Chaim Eisenberg vor vielen „Nazi-Kindern“ in Salzburg liest und gefeiert wird). Und ein Satirker, wenn er die Aufführung von „Penthesilea“ bei den Salzburger Festspielen schildert, wo die berühmten Protagonisten sprachlich so unverändlich waren, dass er als Zuschauer zu den englischen Übertiteln flüchten musste…
Mit 65 Jahren fühlt Gauß sich alt, spürt auch, wie die Zeit immer schneller rinnt, verrinnt, zerrinnt. Aber es ist hoffentlich „nur“ der Rücken, der ihn zeitweise beeinträchtig. Eigentlich könnte er seit 2019 schon seit drei Jahren wieder an einem Tagebuch schreiben. Und das wäre dann noch voller an Ereignissen (diesmal der schlimmsten Art) wie das gegenwärtig vorliegende.
Renate Wagner