Fotos: Agentur
KANGMIN JUSTIN KIM
Ein abenteuerlustiger
„Allesfresser“
Kangmin Justin Kim ist der Paradiesvogel in unserer Opernwelt. Der Koreaner ist ein junger Mann von heute, für den es keinen Widerspruch bedeutet, auf der Opernbühne klassische und weniger klassische „Counter“-Rollen zu singen und gleichzeitig ein YouTube-Star zu sein. In Wien debutiert er mit einer Mozart-Rolle, die sonst meist Mezzos in Hosen singen: Er ist der Annio in „La Clemenza di Tito“ in der Neuproduktion des Theaters an der Wien.
Renate Wagner hat Kangmin Justin Kim befragt,
Herr Kim, Sie debutieren in Wien als Mozarts Annio, nachdem Sie in Montpellier eben erst den Sesto gesungen haben. Und gleichfalls den Idamante in Gießen und den Cherubino in Londons Covent Garden. Diese Partien galten bisher als klassische Hosenrollen für Damen – ist das ein neuer Trend, dass Männer diese Rollen übernehmen? Oder ist das einfach spezifisch ein Zeichen für Ihre persönliche Affinität zu Mozart?
Ich bemühe mich immer, Partien anzunehmen, die meiner aktuellen stimmlichen Entwicklung am besten entsprechen. Derzeit sind dies Mozarts Hosenrollen, daher versuche ich sie so oft wie möglich zu singen. Ich kann nicht sagen, ob dies ein allgemeiner Trend unter Countertenören ist, aber für mich ist Mozart ein so wichtiger Komponist. Seine Musik hört sich sehr einfach an, ist aber sehr schwer zu singen, da sie den Sängern keinerlei Raum gibt, sich zu verstecken. Ich kann die Bemerkung von Kollegen, dass Mozart einen „nackt dastehen lässt“, nur voll und ganz unterstreichen. Für manche würde dies ein Hindernis darstellen, aber ich genieße den Nervenkitzel und die Herausforderung, die dieser Umstand mit sich bringt. Ich habe das Gefühl durch diese innewohnende Transparenz des Mozartgesangs mit den Figuren, die ich darstelle, wie auch mit dem Publikum optimal kommunizieren zu können.
Wenn man Ihre Karriere nach der internationalen Wahrnehmung betrachtet, dann war der Cherubino in „Le nozze di Figaro“ im Juni dieses Jahres in Londons Covent Garden fraglos ein „Durchbruch“. Allerdings haben Sie den Cherubino schon in Heidelberg gesungen. Ist dieser „Gender-Switch“ eine neue Entwicklung?
Soweit ich weiß, gab es schon lange vor mir männliche Cherubinos, und ich bin mir sicher, dass weitere folgen werden. Als ich meinen ersten Cherubino-Vertrag erhielt, war ich nicht einmal 25 Jahre alt. Einen jungen asiatischen männlichen Mezzo als Cherubino zu engagieren, war weder physisch noch stimmlich allzu abwegig. Ich bin froh, meinen ersten Cherubino ganz zu Beginn meiner Karriere gesungen zu haben, denn so konnte ich die Rolle völlig furchtlos und mit einer Portion Kühnheit angehen, als ich sie jüngst für Covent Garden neu einstudierte. Da konnte ich die Frische von damals mit der Kontrolliertheit und dem Tiefgang, die ich in den letzten Jahren gewinnen konnte, verbinden.
Es gibt Definitionsprobleme bei Counter-Tenören, Sie werden in Kritiken oft als „Soprano“ bezeichnet. Wie würden Sie selbst Ihre Stimme charakterisieren?
Ich verwende für meine Stimme gerne den Begriff „Mezzosopranist“, da ich wirklich das Gefühl habe, dass diese Bezeichnung das Instrument in meiner Kehle am besten beschreibt. Im Vergleich zu Kollegen, die echte Sopranisten sind, weisen Stimmumfang, Passaggio, Tessitura und Timbre in meinem Fall in Richtung eines Mezzos. Ergo: Mezzosopranist!
Traditionell ist das Rollenangebot für Counter-Tenöre im Rahmen der „Alten Musik“ riesengroß, und in den letzten etwa 15 Jahren hat die Pflege dieses Genres einen enormen Aufschwung genommen. Warum suchen Sie eigentlich über das hinaus, was Renaissance und Barock bieten, immer mehr Aufgaben?
Ich passe mein Repertoire sorgfältig der aktuellen Entwicklung meiner Stimme an, und ich habe dabei entdeckt, dass sie auch für Werke jenseits des Barocks geeignet ist. Außerdem bin ich ein abenteuerlustiger musikalischer „Allesfresser“, der alle Arten von Musik und auch Herausforderungen liebt. Daher reizt es mich oft, Wege abseits ausgetretener Pfade zu erforschen, vorausgesetzt, dass die Aufgaben geeignet sind und meinen Fähigkeiten entsprechen.
Aber die „Klassiker“ für Ihr Stimmfach sind ja immer noch Monteverdi, Händel, Vivaldi, Vinci… Gibt es da einen Lieblingskomponisten, eine Lieblingsrolle?
Meine Lieblingsrolle aus der Zeit der Barockmusik ist der Nerone in Monteverdis „L’incoronazione di Poppea“, ein Werk, das auch insgesamt zu meinen langjährigen „Top 3“. Opern zählt. Einfach jede einzelne Partie darin ist unglaublich human, menschlich nachvollziehbar und modern!
Die „Alte Musik“ und darin wiederum die Counter-Tenöre – das ist eine Welt für sich. Wie wichtig ist es eigentlich, dass man hier von den großen Dirigenten des Genres wie William Christie, Mark Minkowski oder John Eliot Gardiner gewählt und akzeptiert wird?
Ich hatte das immense Glück, einigen der herausragendsten Barock-Spezialisten zu begegnen, darunter jenen, die Sie erwähnt haben. Ich meine, es ist sehr wichtig mit Dirigenten solchen Formats zu arbeiten, da man durch ihre jahrzehntelange Erfahrung und Expertise unschätzbar wertvolle Dinge lernen kann. Sie sind von der Wiedergeburt der Barockmusik einfach nicht wegzudenken. Ich möchte den drei Genannten an dieser Stelle auch für ihre regelmäßige Arbeit mit Countertenören danken, da sie entscheidend dazu beigetragen haben, dieses einst so „obskure“ Fach mittlerweile fraglos in den Mainstream gerückt zu haben.
Während Sie in Wien schon für den Annio im Theater an der Wien probten, hatte an der Wiener Staatsoper „A Midsummer Night’s Dream“ von Bejnamin Britten Premiere. Hätten Sie nicht auch gerne den Oberon gesungen?
Die Art und Weise, wie ich persönlich Oberon betrachte, geht auf Shakespeares Idee zurück, dass Oberon und Titania zwei Seiten derselben Medaille sind. Ihre Wesenhaftigkeit als Feengeschöpfe steht über der geschlechtlichen Zuordnung, und genauso würde auch ich meinen Oberon anlegen: mit Hauptaugenmerk auf die ätherische Ebene, während er sich auf dem dünnen Grat zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit bewegt.
Er wäre also eine Wunschrolle. Welche andere gäbe es für Sie?
Ja, natürlich, auch „A Midsummer Night’s Dream“ ist einer meiner „Top-3“-Opernfavoriten. Und – das sage ich jetzt halb im Scherz, aber nur halb: Als weitere neue Rolle würde ich gerne den Pagen der Herodias in Strauss‘ „Salome“ singen, nur um sagen zu können, dass ich in einer Strauss-Oper mitgewirkt habe…
Sie hatten auch großen Erfolg mit einer modernen Partie, dem „Pym“ – nach Edgar Allen Poe – von Johannes Kalitzke. Hat er diesen Part speziell für Sie geschrieben?
Ich glaube, dass die Oper schon in Auftrag gegeben war, bevor ich auf der Bildfläche erschienen bin. Als ich Ensemblemitglied in Heidelberg wurde, einigten sich Theater und Komponist darauf, die Hauptrolle des Pym meiner Stimme anzupassen. Ich hatte damals bereits etwas Erfahrung mit zeitgenössischen Komponisten und dem Erschaffen komplett neuer Rollen, und da ich über ein absolutes Gehör verfüge, war atonale Musik für mich nie schwieriger zu singen als herkömmliche tonale Werke. Die größte Herausforderung war die ständige Präsenz auf der Bühne vom Anfang bis zum Schluss der Oper – sowie die deutsche Sprache. Nichtsdestotrotz war es aber eine sehr wertvolle Erfahrung, wobei mich die Nominierung für den Deutschen Theaterpreis DER FAUST natürlich ganz besonders gefreut hat.
Herr Kim, wir wissen so wenig von Ihnen. Erzählen Sie uns ein wenig über Ihre Herkunft und Ihre Familie?
Ich wurde 1988 in Südkorea geboren wo ich bis zum Jahr 2000 lebte, als mein Vater eingeladen wurde, für die Auslandsabteilung seiner Firma in Chicago zu arbeiten. Ich war damals 11 Jahre alt und hatte gerade die 5. Schulklasse abgeschlossen. Mein Vater ist Ingenieur (und Golfspieler), meine Mutter Altdiakonin einer Presbyterianer Kirche in Chicago.
Haben Sie in den USA den Namen „Justin“ angenommen?
„Justin“ habe ich schon viele Jahre vor dem Umzug in die USA ausgewählt. Mein bester Freund in Südkorea war ein gebürtiger US-Amerikaner und hieß Jordan, benannt nach dem berühmten Basketballspieler Michael Jordan. Eines Tages zeigte er mir seinen Namen auf einer Liste englischer Jungennamen, wo direkt neben „Jordan“ der Vorname „Justin“ angeführt war. Der Name gefiel mir rein optisch sehr gut und so adoptierte ich ihn schlicht und einfach. Drei Jahre später übersiedelten wir in die USA, wo ich dann begann, den Namen aktiv zu verwenden, da ich eine Verhunzung meines koreanischen Vornamens vermeiden wollte: „Kangmin“ kann im Englischen weder phonetisch noch im Schriftbild richtig wiedergegeben werden, da der Anfangsbuchstabe irgendwo zwischen „G“ und „K“ angesiedelt ist.
Chicago ist in den USA eine bedeutende Musikstadt. Hat das etwas mit Ihrem Weg „in die Musik“ zu tun?
Während meiner gesamten Gymnasialzeit habe ich in Jugendorchestern Geige und Bratsche gespielt. Dadurch hatte ich die Möglichkeit, mittels Schülertickets Konzerte in der Chicago Symphony Hall zu besuchen, wo ich mich in die Musik Tschaikowskis und Respighis verliebte. Ich war auch in meinem High School Drama Club sehr aktiv, und wir besuchten überdies Opern und Musicals in Chicago. Eine meiner ersten Begegnungen mit dem Genre der Oper war eine Puppentheatervorstellung zu Humperdincks „Hänsel und Gretel“, bei der die Puppen zum Live-Gesang klassischer Sänger bewegt wurden. Damals konnte ich noch nicht ahnen, dass ich einmal die Hexe in diesem Werk singen würde…
Wenn Ihr Leben eine andere Richtung genommen hätte, wären Sie gerne ein Musical Star geworden?
Tatsächlich habe ich an der Universität ursprünglich Musical studiert – als Tenor. Ich bin sicher, dass ich auch diese Karriere sehr genossen hätte, da ich leidenschaftlich gern tanze. Manchmal begebe ich mich stimmlich in Richtung Musical, wenn ich etwa das Rock-Solo in Bersteins MASS oder Miss Mary Sunshine aus „Chicago“ singe, aber das wäre eher eine geeignete Partyeinlage als mein angestammtes Fach.
Tenor, Countertenor – wer entscheidet eigentlich, welchen Weg ein junger Sänger diesbezüglich geht?
Ich weiß nicht, ob es eine universell gültige Antwort darauf gibt, aber in meinem Fall erkannte mein großartiger Gesangslehrer das Countertenor-Potenzial meiner Stimme und half mir, dieses zu entfalten. Darüber hinaus hat meine Mutter mich immer ermutigt, die feminine Seite meiner Persönlichkeit einzubeziehen. Als ich das Fach des Countertenors und die damit verbundenen Rollen entdeckte, konnte mich nichts mehr davon abhalten, diesen Weg einzuschlagen.
Sie haben zahlreiche Meisterklassen mit so berühmten Künstlern wie Dame Kiri Te Kanawa, Thomas Quasthoff oder June Anderson besucht. Was können diese Sänger, die selbst über – um es ohne Vorurteile so zu nennen – „normale“ Stimmfächer verfügen, einem Countertenor-Studenten beibringen?
In diesen Meisterklassen lag der Fokus mehr auf Interpretation und Stil als auf dem Instrument der Stimme an sich. Sie alle waren übrigens der Ansicht, dass ich wie kein gewöhnlicher Countertenor klinge, und da sich meine Stimme wie die eines Mezzos anhörte, arbeiteten wir auch dementsprechend.
Haben Sie eigentlich, wie es in der heutigen Opernwelt üblich ist, an vielen Wettbewerben teil genommen?
Ja, an zahlreichen, von großen, internationalen bis hin zu kleinen, lokalen. Manche habe ich gewonnen, manche verloren, doch von jedem einzelnen wertvolle Erfahrungen mitgenommen, die dazu beigetragen haben, was ich heute bin.
Ihre europäische Karriere hat mehr oder minder damit begonnen, dass Sie 2013 beim Festival von Aix-en-Provence den Menelao in Cavallis Oper „Elena“, die gerade wieder entdeckt worden war, gesungen haben. Wie kam es dazu, dass Sie den Fuß nach Europa setzen konnten?
Als ich mich für die Akademie des Aix-en-Provence Festivals bewarb, wählte ich die Mozart-Abteilung, da ich damals die Musik Cavallis nicht kannte. Dies hielt Alain Perroux jedoch nicht davon ab, mich zu einem Vorsingen einzuladen – für Cavalli. Lustigerweise fand die Audition im Orgelsaal der Wiener Staatsoper (!) statt, und am selben Tag ging ich abends in Joyce DiDonatos Drama Queens-Konzert im Theater an der Wien! Alain sah damals ein Potenzial in mir schlummern, das ich selbst noch nicht erkannte, und gab mir gemeinsam mit dem argentinischen Dirigenten Leonardo García Alarcón in Cavallis „Elena“ die Chance meines Lebens. Die an das Festival anschließende Tournee brachte mich an die unterschiedlichsten Spielstätten Frankreichs und Europas, wo ich teilweise auch vorsingen konnte und schließlich als Sesto in Montpellier zu meiner ersten „La Clemenza di Tito“-Produktion eingeladen wurde. Nicht zuletzt verdanke ich Aix den Erstkontakt zu Marc Minkowski und Ivan Alexander, welche als Leading Team für „Die Fledermaus“ an der Pariser Opéra Comique agierten, wo ich dann mein Debüt als Prinz Orlofsky gab.
Sie sind in Heidelberg in das Ensemble eines relativ kleinen Hauses gegangen. Welche Möglichkeiten sahen Sie da für Ihre Stimme? Und ist es richtig, wie jeder sagt, dass man am Beginn seiner Laufbahn an kleinen Häusern am meisten lernt?
Sicher. Ich habe in Heidelberg gelernt, effizient mit der Zeit und schonend mit der Stimme umzugehen, um diese in Bestform präsentieren zu können. Wenn du vormittags probierst und am Abend Vorstellungen singst, musst du mit deiner Energie haushalten und die unterschiedlichen Rollen deines Repertoires innerlich getrennt voneinander abspeichern. Der Ensemblevertrag umfasste damals Cherubino, eine Barockoper und Pym sowie mehrere Konzerte.
Sie singen, vor allem in Köln, oft die Rolle des Prinzen Orlofsky in der „Fledermaus“. Da haben Sie natürlich in Jochen Kowalski ein berühmtes Vorbild. Im übrigen scheint es, dass Countertenöre auch mehr und mehr bei Offenbach eingesetzt werden, was ja Barrie Kosky zuletzt wieder gezeigt hat.
Ich habe sowohl Orlofsky als auch Oreste aus „La Belle Hélène“ in Paris gesungen und hoffe sehr, dass sich in der Zukunft noch weitere Gelegenheiten dazu ergeben werden! Jochen Kowalski ist übrigens einfach fantastisch, ich hatte eine wunderbare Zeit, als ich letzten Dezember mit ihm gemeinsam an der Staatsoper Berlin „L’incoronazione di Poppea“ geprobt habe. An meinem Geburtstag, der mit der Dernière zusammenfiel, schenkte er mir eine Partitur von Rimski-Korsakows „Schneeflöckchen“ und sagte, dass ich eines Tages die Rolle des Lel für ihn singen müsse…
Sie haben nach und nach auch Frauenrollen gesungen, wie erwähnt die Hexe in „Hänsel und Gretel“. Wie kam es dazu? War das Ihre persönliche Initiative?
Ich muss gestehen, dass ich immer gehofft hatte, auch Frauenrollen zu singen. In der Vergangenheit habe ich mich ein wenig als Drag-Queen versucht, und auch meine Stimmlage hilft mit, die Illusion von Weiblichkeit zu kreieren. Zwar hatten mir sogar die fortschrittlichsten meiner Lehrer davon abgeraten, weibliche Rollen anzustreben, aber ich denke, dass die Menschen heutzutage doch schon bereit sind, Männer in Frauenrollen zu sehen, wenn es musikalisch und schauspielerisch passt.
2020 steht Ihnen an der Oper von Santa Fé ein großes Abenteuer bevor: Sie werden in „M. Butterfly“, die man bisher als Theaterstück und Film kennt, in der Opernfassung vermutlich die Geisha singen?
Es handelt sich dabei tatsächlich um eine brandneue Oper. Die Musik stammt von Huang Ruo, das Libretto wurde vom Originalautor des gleichnamigen Theaterstücks, David Henry Hwang, verfasst. Ich singe die Partie des Song Liling, einem Schauspieler der Peking Opera, die als genuin chinesische Opernform Gesang, Tanz, Pantomime und Akrobatik auf einzigartige Weise miteinander verbindet. Derzeit setze ich mich intensiv mit der Partitur auseinander und stehe in regelmäßigem Kontakt mit dem Komponisten um sicherzustellen, dass die Rolle meine Stimme auf die richtige Art und Weise kleidet.
Sie sind ein vollkommen moderner Typ, ungemein chic mit Ihren blonden Haaren, zudem ein YouTube-Star, was ja heute in der klassischen Musikwelt doch noch nicht üblich ist…
Dankeschön! Als Künstler gibt es so viel, das ich ausdrücken möchte, und ich habe die Angewohnheit, mich kopfüber in das zu stürzen, was mich und meine Laune anspringt. Wer weiß? Vielleicht laufe ich ja irgendwann mit kahlrasiertem Kopf und Bart herum?! Was YouTube betrifft – als Musiktheaterstudent suchte ich nach einer Plattform, wo ich einige jener Dinge ausprobieren konnte, die ich im Schauspielunterricht gelernt hatte. So entstand mein eigener YouTube-Kanal. Danach versuchte ich mich als Drag-Queen, weil mir „RuPaul’s Drag Race“ sehr gefiel (US-amerikanische Reality-Show, bei welcher der Drag Superstar gesucht wird, Anm.) und auch jetzt noch gefällt. Heute, wo mein Kalender randvoll mit Opernengagements gefüllt ist, versuche ich ein paar meiner vergangenen Erfahrungen auf die Bühne zu holen, etwa wenn ich mich durch eigenes Schminken für die Rolle der Speranza in „L’Orfeo“ in Marilyn Monroe verwandle…
Geradezu You-Tube-legendär wurde Ihre Cecila Bartoli-Parodie. Wie muss man das verstehen? Ist das ein Akt der Liebe und Bewunderung für eine große Künstlerin – oder vielleicht doch ein bisschen Spott dazu, wie sie sich gibt…?
Da man sagt, dass Imitation die höchste Form von Schmeichelei ist, habe ich meine Kunstfigur Kimchilia Bartoli wirklich als Ausdruck meiner großen Liebe und Bewunderung Cecilia Bartolis erschaffen. Dabei habe ich hart am musikalischen Aspekt gearbeitet, wodurch keine oberflächliche Show, sondern eine richtige Konzertvorstellung entstanden ist. Glücklicherweise hat Frau Bartoli dies sehr genau durchschaut und mir bei unserer ersten Begegnung ihren Sanctus dazu gegeben!
Sie haben offenbar eine große Vorliebe für Pop und Crossover. Geht es Ihnen dabei darum, neue Publikumsschichten zu erreichen?
Nicht unbedingt. Es ist eher mein persönlicher Geschmack, bevor ich Klassiksänger wurde. Ich wuchs mit Liedern von Mariah Carey, Britney Spears, Beyoncé und Whitney Houston auf und werde ihre Kunst immer bewundern. [Hier trällert er die Melodie von Houstons „I will always love you“, verändert den Text aber „And I~~~ will always… admire their artistry.“]
Kommen wir noch einmal in die Gegenwart zurück und sprechen von der Zukunft. Wäre es für Sie vorstellbar, dass Sie mehr „Männerrollen“, die als Frauenrollen geschrieben sind, zurück erobern – ich denke da vor allem an den Octavian und den Komponisten bei Richard Strauss… der ja mit diesen Rollen an die Mozart-Tradition angeschlossen hat!
Sag niemals nie, aber derzeit ist meine Stimme weder für Octavian noch für Komponist geeignet. In meiner sechsjährigen Karriere kann ich nun endlich meine erste Händel-Partie interpretieren: den Ruggiero in „Alcina“. Es wäre für mich erst einmal großartig, diese Stoßrichtung weiterzuführen und Figuren wie Serse oder Ariodante zu singen.
Man findet Sie überall in Europa und auch sonst noch in einigen Teilen der Welt. Wo leben Sie eigentlich?
„Any place I hang my hat is home“, wie es im Song von Harold Arlens & Johnny Mercer heißt. Wenn ich arbeite, bin ich ein Weltenbürger, weil ich überall hingehe, wo ich Engagements bekomme. Wenn ich nicht arbeite, findet man mich meistens in Paris oder Chicago.
Wenn man Ihren Terminplan ansieht, kann man sich kaum vorstellen, dass Sie Freizeit haben könnten. Aber wenn – was machen Sie dann?
Ach, ich habe so viele Hobbys! Mein Instagram-Account @jkimisyellow gibt meine Freizeitleidenschaften recht gut wieder, die u.a. Stricken, in die Luft springen und FKK beinhalten – nicht selten alles auf einmal!
Lieber Herr Kim, in Ihrer Person hat die heutige Jugendkultur die Opernbühne erreicht. Wir wünschen Ihnen weiterhin viel Erfolg auf Ihren vielfältigen Wegen!