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Julia Schneidawind: SCHICKSALE UND IHRE BÜCHER

08.01.2024 | buch, CD/DVD/BUCH/Apps

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Julia Schneidawind
SCHICKSALE UND IHRE BÜCHER
Deutsch-jüdische Privatbibliotheken zwischen Jerusalem, Tunis und Los Angeles
In der Reihe: Jüdische Religion, Geschichte und Kultur  Band 34
308 Seiten, Verlag Vandenhoeck & Ruprecht. 2023 

Üblicherweise spricht man von Büchern und ihren Schicksalen, aber es macht durchaus Sinn, wenn Julia Schneidawind  ihr Buch „Schicksale und ihre Bücher“ nennt. Denn die Schicksale der jüdischen Bücherbesitzer stehen im Vordergrund, die Bücher (von enormer Wichtigkeit) solltten ihnen ins Exil folgen. Es gelang nicht immer, sie nahmen ihren eigenen Weg. Auf Umwegen, die dramatisch und tragisch erscheinen und von der Autorin in den gewählten Fällen penibel nachvollzogen werden.

Die Juden sind ein Volk der Schrift. Bücher bedeuten ihnen darum viel, sehr viel. „Bücher sind unsere Provinzen, Sätze unsere Städte und Dörfer“, meinte Lion Feuchtwanger, um den es in dem Buch über jüdische Privatbibliotheken auch geht. Sehr schön auch die Formulierung von Heinrich Heine, der bemerkte, dass die Juden das aus dem brennenden Tempel geretteten „heilige“ Buch „wie ein portatives Vaterland mit sich herumschleppten“ – womit Bücher zum Metonym für das kulturelle Erbe der Juden wurden.

Die Autorin, am Lehrstuhl für Jüdische Geschichte und Kultur an der Ludwig-Maximilians-Universität München tätig, legt ihre Dissertation vor – fünf Fallbeispiele zum Thema, verstreute Bibliotheken zwischen Tunis und Petropolis, womit sie nicht zuletzt die Frage der Translokation materieller Kultur, wie sie es nennt, aufwirft – als eine Frage von vielen.

Konkret behandelt werden fünf „Fälle“ – Stefan Zweig (1881–1942)  ist wohl am berühmtesten geblieben, Lion Feuchtwanger (1884–1958) etwas  weniger, Jakob Wassermann (1873–1934) am wenigsten, ebenso Karl Wolfskehl (1869–1948). Der Philosoph Franz Rosenzweig (1886–1929) ist wohl den allerwenigsten bekannt.  Es sind abenteuerliche Irrfahrten, die ihre Bücher nahmen, meist getrennt von ihren Besitzern, in Kisten verstaut, herrenlos unterwegs.

Jedes Schicksal ist anders, und jenes der 3000 Bücher aus dem Besitz von Franz Rosenzweig noch einmal anders, denn er selbst ist 1929 verstorben, und es war seine Witwe Edith, die angesichts des eigenen Exils die Bibliothek ihres Mannes vor der zu erwartenden Zerstörung bewahren wollte. Dass die Kisten, die für Palästina gedacht waren, dann in Tunis landeten, wo sich die Bücher heute noch in fremder Welt befinden… man könnte es kaum erfinden.

Lion Feuchtwanger, der Mann der zahllosen Beziehungen (zu Frauen) und zahllosen Orte, in denen er sich aufhielt, sah sich immer wieder seiner Bücher beraubt – erst durch die Nazis in Berlin, dann im französischen Exil, wo er versucht hatte, sich eine neue Bibliothek aufzubauen – und dennoch schafft er es in Kalifornien erneut, an die 30.000 Bände zusammen zu tragen.

Stefan Zweig sammelte Autographen und Bücher geradezu leidenschaftlich, und es zählte zu den schmerzlichsten Verlusten seines Lebens, dass er seine Sammlungen während der Stadien seiner Flucht (er verließ England wieder, weil es aussah, als würden die Deutschen die Insel besetzen), die bis Petropolis in Brasilien führte, teils aufgelöst wurde. Heute gibt es digitale Projekte, seine Besitztümer zu rekonstruieren, wobei sich ein Teil seiner eigenen, in viele Sprachen übersetzten Werke heute auch in Jerusalem befindet.

Auch Karl Wolfskehl musste seine Bücher verkaufen, um sein Leben im Exil zu finanzieren, der Bibliophile Salman Schocken erwarb sie, und von da wanderten sie in alle Welt. bis Neuseeland. Ein Versuch der Stadt München, die Bibliothek rekonstruierend zurück zu kaufen, scheiterte.

Die Bücher von Jakob Wassermann hatten „Glück“ – dass sie sich heute in Nürnberg befinden, hat mit dem Verkauf seiner Villa in Altaussee nach seinem Tod zu tun und ist, wie alle anderen, auch eine abenteuerliche Geschichte.

Die Autorin ist den Büchern, wo sie konnte, nachgereist, hat im übrigen alle verfügbaren Dokumente befragt, Selbstzeugnisse der Beteiligten, Akten, Zeitungsberichte, was immer an Quellen zu finden war. Eine beeindruckende wissenschaftliche Arbeit. Dabei ist es eine Geschichte der Bücher geworden, aber auch der Menschen, denen sie so viel bedeutet haben.

Renate Wagner

 

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