Jürgen Pettinger
DOROTHEA
Queere Heldin unterm Hakenkreuz
192 Seiten, Verlag Kremayr & Scheriau, 2023
Der „Fall Dorothea Neff“ (der sich nicht auf die künstlerische Tätigkeit der grandiosen Schauspielerin des Volkstheaters bezieht) ist lange bekannt und wurde oft ausführlich gewürdigt. Sie hatte während der Kriegsjahre eine Jüdin bei sich versteckt.
Bekannt war auch, dass es sich dabei um ihre damalige Liebespartnerin Lili Wolff handelte, was die Sache nicht weniger mutig und bewundernswert machte (sie riskierte schließlich ihr Leben), aber doch auf eine andere Ebene hebt, Denn wahrscheinlich würden viele Menschen, die nicht den Mut hätten, Fremde zu retten, dies für ihre Liebsten tun, für Eltern, Geschwister, Kinder, Männer, Geliebte. Oder, wie in diesem Fall: Frauen, Geliebte.
Nun ist in unseren Tagen der LGBTI-Aktivitäten und eines Bewusstseins, das gleichgeschlechtliche Beziehungen nicht mehr verstecken muss, sondern ausdrücken und ausleben kann, ein weiterer Aspekt dazu gekommen. Heute ist „Dorothea“ zu etwas weiterem geworden – „Queere Heldin unter dem Hakenkreuz“ nennt sich die Romanbiographie, die der Journalist Jürgen Pettinger über diesen Fall schrieb. Noch einmal aufgerollt – unter Betonung des zusätzlichen Aspekts.
Pettinger hat die Form einer Romanbiographie gewählt, und Andreas Brunner – wie der Autor Spezialist für homosexuelle Problematik im weitesten Sinn – im Vorwort meint, böte diese Betrachtungsweise mehr Möglichkeiten als jede faktische historische Darstellung: „Er erzählt von Gefühlen, von Liebe und Verzweiflung, von Freude und Abscheu, von Hoffnung und Angst, ohne diese Emotionen den Leser:innen erklären zu müssen, weil er sie durch die handelnden Personen lebendig werden lässt. Fakten sprechen selten unvermittelt zu uns.“
So steigt das Buch, ohne die Vorgeschichte und die handelnden Personen auszubreiten, gleich in jenem Moment ein, als die verfolgte Jüdin Lilli Wolff schon eineinhalb Jahre in der Wiener Wohnung von Dorothea Neff in der Annagasse 8 quasi „eingesperrt“ ist und eine Art Gefängniskoller erleidet. Sie fleht gerade darum, wenigstens „zuhören“ zu dürfen, wenn Dorothea ein paar Freunde zum Abendessen einlädt – darunter den damaligen Medizinstudenten Erwin Ringel, der einmal ein berühmter Mann in Österreich sein wird und in dieser Geschichte noch eine große Rolle spielt.
Tatsächlich platziert man Lilli in eine Art „Ofenloch“, was ihr ermöglicht, die Gespräche – auch O.W, Fischer, damals noch Kollege im Deutschen Volkstheater, ist zu Gast – mit anzuhören. Und der Autor seinerseits benützt die Gelegenheit, hier in Rückblicken, während Lilli „in die Schwärze des Kaminschachts hinein blinzelte“, stückchenweise die Geschichte der beiden Frauen zu erzählen.
Dabei ist Dorothea Neff, die Deutsche, die nach Wien engagiert wurde, ja doppelt belastet, wenn sie eine Jüdin bei sich versteckt – das allein schon könnte sie das Leben kosten (und sie hat erlebt, wie viele Kollegen am Theater auf Nimmerwiedersehen von der Gestapo abgeholt wurden). Sollte sich herausstellen, dass sie zudem lesbisch ist, kämen noch die Verfolgung gleichgeschlechtlicher Liebe und – Rassenschande hinzu, denn Ariern war jede sexuelle Verbindung mit Juden verboten…
Lilli Wolff, geboren 1896 in Köln, und Dorothea Neff, geboren1903 in München, kannten sich aus der Zeit, als Dorothea in Köln engagiert war, wo Lilli mit ihrer Assistentin Martha-Maria Driessen einen Modesalon führte. Lilli und Dorothea lernten sich während einer Kostümprobe im Theater kennen und verliebten sich in einander. (Später erfährt man im Buch beider Biographien ausführlich.)
1939 nahm die Schauspielerin ein Engagement in Wien am Deutschen Volkstheater an, Lilli folgte ihr 1941, als die Lage für Juden in Deutschland immer drückender wurde. In Wien lebte sie zuerst in einer so genannten „Judenwohnung“. Als Dorothea mit Judith Holzmeister und anderen Kollegen zu einer Wehrmachtstournee nach Frankreich abkommandiert wurde, war Lilli noch dort und bekam Lebensmittelkarten, sonst wäre sie verhungert.
Aber als die Aufforderung kam, einen Koffer zu packen, wusste jeder, was das bedeutete… Sie würde dann in ein Judenreservat oder ein Arbeitslager nach Polen transportiert. So zog Lilli als U-Boot bei Dorothea ein. Lilli verschwand für die Behörden, denen Dorothea versicherte, die Jüdin hätte sich das Leben genommen, und wurde zum „Geist“. Und Dorothea musste in dieser hoch gefährlichen Situation ihren Abscheu vor dem Regime tunlichst verbergen (sie wusste. Ein falsches Wort, und du bist weg), man konnte auch niemandem trauen – außer dem Medizinstudenten Ringel.
So setzt sich der mühsame Alltag – real so belastend wie psychologisch – in den Erinnerungen der Frauen zusammen. „Die Angst, dass die Nazis die Treppe heraufkommen, um uns zu holen, hat mich nie verlassen“, sagte Lilli Wolff später. Immer huschte sie in dicken Strümpfen durch die Wohnung, um ja kein Geräusch zu verursachen. Gemeinsam träumten sie davon, einmal nach Amerika auszuwandern…
Das Leben für zwei mit einer Lebensmittelkarte bescherte ihnen ewigen Hunger. Darüber hinaus litt Lilli seit ihrer Jugend an Magenproblemen. Schließlich erkrankte sie so schwer, dass Dorothea Ringel um Hilfe bat. Er brachte sie als „Geflüchtete“, die ihre Papiere verloren hätte, ins Krankenhaus, und die nötige Operation rettete ihr das Leben.
Aber die Probleme waren lange nicht vorbei. Am 1. September 1944 wurden alle Theater geschlossen. und danach wurde Dorothea zum Arbeitseinsatz kommandiert. Damals lernte sie Eva Zilcher kennen, die bis zum Lebensende ihre Gefährtin sein sollte – sie lebten 42 Jahre lang wie ein Ehepaar, die eine war ohne die andere nicht vorstellbar, bis der Tod sie schied. Sie liegen auch im selben Grab.
Inzwischen waren auch Lillis Kölner Freundinnen eingetroffen, was zu Spannungen und Eifersüchteleien führte, die Nerven aller Beteiligten waren (aus rein alltäglichen und aus emotionalen Gründen) zum Zerreißen gespannt, und als der Nazi-Spuk endlich vorbei war (und die Russen kamen), ging Lilli allein in die USA, sie musste weg, brauchte Distanz zu dem, was geschehen war. In Dallas baute sie sich eine neue Karriere als Designerin auf.
Nur relativ kurz behandelt der Autor im Epilog die weitere Geschichte der beiden Frauen. Dorothea hat aus guten Gründen lange über die Episode Lilli Wolff geschwiegen – schließlich war in Österreich Homosexualität bis 1971 strafbar. Und auch danach war gleichgeschlechtliche Liebe gesellschaftlich keinesfalls anerkannt.
Mehr durch Zufall kam die Geschichte mit Lilli Wolff bei einem Interview zur Sprache – der Staat Israel hat Dorothea Neff daraufhin mit der Medaille von Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ ausgezeichnet.
Und die Romanbiographie macht sie und ihre Zeit, ihre Leidenszeit, außerordentlich lebendig.
Renate Wagner