Judith Fanto
VIKTOR
415 Seiten, Verlag Urachhaus, 2021
Das ist die Geschichte der in den Niederlanden lebenden Judith Fanto, wie sie sich heute nennt, und von ihrem langen Weg zu ihrer jüdischen Identität, die sie von ihrem (an sich jüdischen) Elternhaus nicht mitbekommen hat. Im Gegenteil – um sich in der neuen Heimat ganz zu assimilieren, gab man ihr den guten holländischen Namen „Greetje“ und wollte eigentlich gar nie darüber reden, dass man eigentlich „jüdisch“ war, zudem die gewechselte Religion über katholische Netzwerke im Zweiten Weltkrieg einen Teil der Familie gerettet hatte.
Eine Generation Überlebender versuchte ihren Schmerz zu besiegen, indem sie nicht darüber sprach. Judith nennt sie den „Stamm der nichtjüdischen Juden“, denen gelegentlich auch eine antisemitische Bemerkung entrutscht…
Das Problem ist virulent und wurde schon verschiedentlich aufgegriffen. In dem schönen Theaterstück von Herb Gardener, „Conversations with my father“, handelt auch davon, dass eine Elterngeneration von ihrem Judentum nichts wissen will und deren Kinder dieses quasi von selbst (und auch als Protest) „entdecken“ und ihr Jüdisch-Sein annehmen.
Genau darum geht es, um die Wiedereroberung jüdischer Identität aus eigener Kraft. Das beschreibt Judith Fanto in dem Buch namens „Viktor“, das auf zwei Ebenen funktioniert: Die Geschichte der niederländischen jungen Frau, die sich selbst findet und sich dann auch selbst den Namen Judith gibt, und die Geschichte ihrer Wiener Vorfahren. Von denen ihre Eltern sich zusammen mit Judiths Großmutter retten konnten – während die andern in den Lagern der Nazis umkamen. Und die Überlebenden haben nie aufgehört, sich am Tod derer schuldig zu fühlen, die zurück geblieben sind, weil die Flucht nur für wenige möglich war…
Warum bist Du nie nach Wien zurück gekehrt? fragt Judith die Großmutter.
„Ich hatte Angst. Nicht vor Wien, sondern vor den Wienern.“
Sie waren so interessant, so kultiviert, so witzig, so liebenswert, diese so assimilierten Rosenbaums, die reich waren, aber denen Geld nichts bedeutete, Kultur hingegen alles. (Allerdings – eine Operette von Strauß, das fiel nicht unter Kunst…) Adresse Schwarzenbergplatz 6. weiter weg vom Konzerthaus hätten sie nicht wohnen können….
Judith muss sich deren Geschichte selbst aus den spärlichen Erinnerungs-Happen, die sie von den widerstrebenden Eltern bekommt, und aus Dokumenten zusammen setzen. Hitler lebt, denkt Judith. Sein Geist spukt in unserem Haus herum. Für meine Familie ist der Krieg nie zu Ende gegangen, sie lebt noch immer untergetaucht…
Die Handlung springt zwischen Einst und Jetzt, und jede Figur, die einem begegnet, steht auch für ein Stückchen Weltanschauung (so auch Greetje/Judiths Schwester Harmke, die ihr Cello umklammert und einfach Musikerin sein und sich mit der Vergangenheit nicht belasten will).
Damals in Wien war Viktor (Judiths Großonkel) der schönste Mann von Wien, ein Dandy und Frauenverführer, voll Charme und Widersprüchen, aber doch das schwarze Schaf der Familie, mit einem gestörten Verhältnis zum Materiellen (der reiche Papa, der dauernd von ihm enttäuscht war, musste immer wieder aushelfen) – „Deinem Auto ist es schon einmal besser gegangen“, gesteht Viktor. „Und der Fensterfront des Café Landtmann auch…“ Und doch, am Ende, als es ans Sterben ging, war Viktor ein Held.
Für Judith aber, die schweren Widerständen ihrer Umwelt (und auch Beschuldigungen, etwa einer Art von Wichtigmacherei) gegenüber steht, ergibt sich die Frage junger Juden, ob es eine Frage der Ehre für sie ist, das Leid der Vergangenheit (das sie nicht mehr berühren müsste) mitzutragen? „Ging meine Identifikation so weit, dass ich mich ebenfalls als Opfer des Holocaust empfand? Eignete ich mir unrechtmäßig das jüdische Leid an und pflegte es gar noch?“ Hier wird wirklich keine Überlegung ausgelassen. Man drückt sich nicht um möglicherweise unangenehme Fragen herum.
Zum Beispiel jene, die in dem Buch auch diskutiert wird: Die Juden, so heißt es, waren immer schon ein Volk, das in jeder Kultur leben kann. Oder nur überleben? War es nicht Zeit, sich zu befreien und selbständig zu machen?
Das Buch bietet ein Neuaufarbeiten des Holocaust, eine komplexe, harte Problematik, die nie leicht genommen, aber dennoch mit unglaublich viel Charme und vor allem Klugheit und tiefem Gefühl erzählt wird.
Renate Wagner