John Guy & Julia Fox:
JAGD AUF DEN FALKEN
Anne Boleyn und Heinrich VIII.
603 Seiten, Verlag C.H.Beck.2024
Spannender als jeder Roman
Bedenkt man, was sich an ihre Person knüpft, kann man sie als eine enorm wichtige Persönlichkeit der Geschichte betrachten. Wegen Anne Boleyn löste Heinrich VIII. sich von der Katholischen Kirche, schuf die Angelikanische, und England hat bis heute eine eigene Religion. Und schließlich hatte sie zwar „nur“ eine Tochter in einer Welt, wo eigentlich nur Söhne zählten, aber diese war Elizabeth I., die ihr Land als Königin mit eiserner Hand und souveräner Intelligenz führte – auch ein Erbe der Mutter?
Doch wann und was immer man bisher über Anne Boleyn gelesen hat, sie schien nie sehr sympathisch zu sein. Eine Außenseiterin mit Sicherheit, aber, der Verdacht liegt nahe, auch eine Frau, deren Andenken – im Sinn von Damnatio Memoriae – mit Absicht zerstört wurde. Und im übrigen war sie immer nur eine von sechs – der sechs Frauen von König Heinrich VIII. von England, von dem die meisten Biographien handeln.
Nun sind mit John Guy und Julia Fox zwei Historiker angetreten, Anne direkt in den Fokus zu rücken, was natürlich nicht ohne den Gatten geht – wäre sie nicht die Frau des Königs geworden, würde man sie als eine der zahllosen englischen Adeligen am Hof nicht mehr kennen.
Die Autoren beginnen ihr Buch, was für sensible Leser gar nicht so einfach ist, mit der Hinrichtung (auf die man sie hatte sadistisch warten lassen) – aber man erfährt, dass Anne Boleyn sich auch für diesen ihren letzten Auftritt in der Öffentlichkeit mit Sorgfalt und Symbolik kleidete. Sie trug Grau, was sie zu „Lebzeiten“ nie getan hatte. Und sie hatte ihre gar nicht kurze Abschiedsrede sorgfältig geprobt. Nach ihrem Tod wurde ihr Körper allerdings schnell weggeschafft und ohne weiteres Zeremoniell in einer Kapelle des Towers begraben… Allein an der Schilderung dieser Prolog-Szene bis zu ihrem Tod wird klar, mit welcher Ausführlichkeit sich die Autoren jedem Detail widmen würden.
Und das tun sie auch – sie wollen alles genau wissen (und die interessierten Leser auch). In aufeinander folgenden Kapiteln werden erst Jugend und Heranwachsen von Heinrich, dann von Anne geschildert, wobei auch ihren Vorfahren breiter Raum gegeben wird. Während Heinrich (nach dem Tod seines älteren Bruders) für England „gutaussehend, vorwitzig, sehr begabt, mit einem runden, strahlenden Gesicht und einem rotbraunen Haarschopf“ der junge König der Träume war, bekam Anne – die aus einer Familie stammte, die durch ihren starken Aufstiegswillen geprägt war – durch ihren Vater die Möglichkeit, erst nach Mechelen, an den Hof von Margarete von Österreich, dann an den Hof der jungen Königin Claude von Frankreich zu kommen und eine Welt kennen zu lernen, die jene Englands an Raffinesse weit übertraf. So kam sie nach England zurück.
Zudem war sie mir ihrem dunklen Teint und den schwarzen Haaren gewissermaßen eine „exotische“ Schönheit. Kein Wunder, dass der nicht minder brillante junge König sich genau in sie, die besondere Frau, verliebte. Und wenn man bedenkt, dass Annes persönliche Katastrophe hätte vermieden werden können, wenn sie, wie so viele Damen, einfach die Geliebte von Heinrich geworden wäre…
Selbstsicherheit und Überheblichkeit – vermutlich waren es tatsächlich diese Eigenschaften, die Anne Boleyn, die es nicht billig geben wollte, erst auf den Thron, dann aufs Schafott gebracht haben. Im Kampf mit dem mächtigen Mann war sie nur stärker, solange ihr die Waffe Sexualität und das Gebären des möglichen Thronfolgers zur Verfügung standen. Als beides nicht mehr wirkte, war Heinrich stärker – zumal er ein Mann von höchster Skrupellosigkeit war, der Annes Tod unter Vorwänden (Ehebruch, Inzest, Mordabsichten) in einem Gerichtsprozeß mit sicherem Todesurteil herbeiführen ließ.
Anne Boleyn konnte nicht gewinnen. Hätte Heinrich geahnt, dass diese Tochter Elizabeth einst eine der herausragendsten Persönlichkeiten der englischen Geschichte sein würde… aber er konnte so nicht denken, es war eine Welt der Männer (trotz der Beispiele durchaus mächtiger Frauen auch schon in dieser Welt, siehe seine erste Schwiegermutter, Isabella von Kastilien).
Das Buch wahrt die Chronologie der Ereignisse, erzählt eine ausführliche Beziehungsgeschichte oft so spannend wie einen Roman – und das war es ja gewissermaßen auch, angesichts der beiden ungewöhnlichen Persönlichkeiten, die da auf einander prallten, und der Fallhöhe der Geschichte, die sich in hoher Politik und Religion abspielte: Man kann Englands Abspaltung vom Katholizismus historisch ja gar nicht hoch genug bewerten – und das, weil eine selbstbewusste junge Frau einen allmächtigen Mann dermaßen am erotischen Gängelband führte, so dass er sich von seiner (politisch so vernetzten) spanischen Gattin Katharina von Aragon (der Tante von Karl V.) einfach scheiden lassen musste und selbstherrlich und mächtig genug war, dem Papst, der dies verweigerte, den Rücken zu kehren
Interessant ist auch die Entwicklung beider Persönlichkeiten im Rahmen der Beziehung, das immer wachsende Selbstbewusstsein von Anne Boleyn, Heinrichs langsamer emotionaler Rückzug, verbunden mit den Reaktionen der Umwelt, die von dieser Beziehung schwer betroffen war.
Heinrichs Leben wurde übrigens nach Anne Boleyn mit den folgenden vier Frauen immer unbefriedigender, und es wundert nicht, wenn er am Ende als Mann geschildert wird, in dessen terroristischer Welt niemand mehr wagte, seine Meinung zu sagen…
Für jeden, der historisch tiefer interessiert ist und dabei einen flüssigen Stil zu schätzen weiß, ist es letztendlich die hier ausgebreitete ungeheure Informationsfülle, die diesem Werk besonderen Reiz verleiht. Zumal auch an zusätzlichen Quellen zu interessanten Einzelfragen, an personalisierten Registern und letztlich ausführlichen Stammtafeln nicht gespart wird.
Das finale Statement der Autoren lautet: „Wir haben Stunden (oft mitten in der Nacht bei Tee und Haferkeksen) damit zugebracht, uns über die Motive, Zwange und Schicksale der verschiedenen Charaktere den Kopf zu zerbrechen und darüber zu diskutieren, und wir haben jede Minute davon genossen.“
Und das merkt man auch. So sollen Biographien sein.
Renate Wagner