JOHANN SEBASTIAN BACH: Das Gesamtwerk für Tasteninstrumente, BENJAMIN ALARD; 1. Teil „Der junge Erbe“, harmonia mundi 3 CDs
Der frz. Cembalist und Organist Benjamin Alard hat in einem auf Jahre hinaus angelegten großen Aufnahmeprojekt nicht weniger vor, als das Gesamtwerks Bachs für Cembalo & Co einzuspielen. Es wäre damit die allererste Gesamtaufnahme von Johann Sebastian Bachs Werke für Solo-Tasteninstrumente durch ein und denselben Musiker. Dabei bildet der chronologische Ablauf des Lebens Bachs zwischen der lutherischen Tradition und den Errungenschaften der Aufklärung die dramaturgische Grundlage eines Zyklus‘ in 14 Kapiteln.
Abseits der bekannten und bestens dokumentierten Jahre als Leipziger Thomaskantor konfrontiert die erste, 3 CDs starke Box, den Hörer mit dem kaum bekannten Schaffen Bachs in den jugendlichen Jahren 1699-1705. Die Werke zeichnen das Bild eines frühen Genies, das Schritt für Schritt seine Begabung auslotet, wie dies Peter Wollny in seinem informativen Beitrag für das Booklet festhält. Der zehnjährige Waise Johann Sebastian kam nach dem Tod seiner Eltern von Eisenach zu seinem ältesten Bruder Johann Christoph ins 40 km entfernte Ohrdruf (CD 1). Ab dem fünfzehnten Lebensjahr setzte er seine musikalische Ausbildung ganz im Sinn der norddeutschen Orgeltradition in Lüneburg (CD 2) fort. Prägender Lehrer war hier Georg Böhm, der die Orgel mit allem „fütterte“, was damals an Musik greifbar war, von sakral bis Opernarien, Lieder oder Suiten der frz. Cembalisten und so Bach maßgeblich beeinflusste. Die dritte CD ist der Arnstädter Zeit gewidmet, wo Bach 1703 seine erste Anstellung als Organist erhielt. Diese Phase ist es auch, wo erste Meisterwerke heranreifen und Bachs unverwechselbarer Personalstil (z.B.: Fantasie in c-moll, BWV 1121) entsteht.
Stehen anfangs noch Inspirationen durch die wichtigsten Komponisten seiner Epoche auf der Tagesordnung (Johann Michael Bach, Girolamo Frescobaldi, Johann Kuhnau, Johann Jacob Froberger, Johann Pachelbel oder Nicolas de Grigny), so entstehen in der Lüneburger Zeit vor allem Choralbearbeitungen und die ersten Präludien und Fugen. In Arnstadt erweitert sich das kompositorische Spektrum um Fantasien, Suiten, Arias und Partiten. Benjamin Alard spielt die Werke je nach ihrer Eigenart auf einer üppig klingenden Orgel des sächsischen Meisters André Silbermann in der Kirche Sainte-Aurélie in Strassburg bzw. einem durchaus klangreichen Cembalo von Émile Jobin. Nach den jeweiligen Vorspielen werden die Choräle von der Sopranistin Gerlinde Sämann mit engelhaft reiner Stimmgebung gesungen, um den Zuhörern auch deren Inhalt zu vermitteln.
Benjamin Alard ist sowohl als Organist als auch auf dem Cembalo ein seriöser aber ebenso mitreissender Anwalt der komplexen und geheimnisvollen Tonschöpfungen Bachs. Die mutige Edition hat mit der vorliegenden Box einen wohl gelungenen Auftakt hingelegt. Die mit über 4 Stunden Spieldauer übervollen CDs geben eine erste wohlschmeckende und anregende Kostprobe des ungemein lebendig und mit wacher Präzision aufspielenden Virtuosen. Die Neugier ist geweckt, bitte rasch mehr davon!
Werke: Die Zeit in Ohrdruf – Bach: Fantasie BWV 570; Orgel-Choräle BWV 700, 724, 1091, 1097, 1112, 1113, 1119; Fuge über ein Thema von Albinoni BWV 946; Fuge A-Dur BWV 949; Präludium & Fuge a-moll BWV 881; JM Bach: Choral „Nun komm der Heiden Heiland“; Frescobaldi: Bergamasca; JC Bach: Präludium & Fuge Es-Dur; Kuhnau: Sonate Nr. 4 aus „Musicalische Vorstellung einiger biblischer Historien“; Böhm: Vater unser im Himmelreich; Froberger: Canzona; Pachelbel: Choral „An Wasserflüssen Babylon“; Marchand: Suite d-moll (Prelude, Sarabande, Chaconne); Grigny: Point d’orgue sur les grands jeux
+Die Zeit in Lüneburg – Bach: Präludien & Fugen BWV 531, 549a, 896; Capriccio BWV 993; Sonate a-moll BWV 967; Fuge a-moll BWV 947; Partita BWV 770 über „Ach, was soll ich armer Sünder machen“; Orgel-Choräle BWV 741, 957, 1092, 1099, 1105, 1111, 1114-1118
+Die Zeit in Arnstadt – Bach: Fantasie BWV 1121; Capriccio sopra la lontananza del fratello dilettissimo BWV 992; Präludium et Partita del tuono terzo BWV 833; Suite A-Dur BWV 832; Aria variata BWV 989; Präludien & Fugen BWV 533 & 535a; Sonate D-Dur BWV 963; Fugen über ein Themen von Albinoni BWV 950 & 951a; Fantasie BWV 571; Fantasie & Imitatio BWV 563
Dr. Ingobert Waltenberger