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JESSICA PRATT – Belcanto-Spezialistin im Portrait

27.08.2013 | INTERVIEWS, Sänger

 Im Portrait:  Belcanto-Spezialistin  JESSICA PRATT

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Jessica Pratt. Foto: Luis Condró

 Rossini in Wildbad 2008: als Desdemona in der 1816 uraufgeführten Belcanto-Version des „Otello“ liebt und leidet eine junge Sängerin auf eine vokal-körperlich derart bezwingende und gesangstechnisch beglückend wirkungsvolle Art und Weise, dass ihr Name von nun an erhöhte Aufmerksamkeit verdient. Wer verbirgt sich hinter diesem belcantistisch-darstellerischen Gesamtkunstwerk?

 Grundlagen und Anfänge

 Die 1979 in Bristol geborene Jessica Pratt dürfte die Veranlagung zum Idealfall einer Bühnenkünstlerin von ihrem Vater, einem Tenor, eingeimpft bekommen haben, von dessen Gesang und Unterricht umgeben, sie in Australien aufgewachsen war. Auch die Mutter, eine Vertreterin der Bildenden Künste, hat wohl die Wahl des Künstlerberufes beeinflusst. Die gleichermaßen musikalische wie darstellerische Erfüllung ihrer Auftritte gründet andererseits  sicher in ihrer breiten Ausbildung, zu der auch Privatstunden in Tanz, Bewegung und Sprachen gehörten.

Ihr musikalischer Lebensweg begann indes mit der Trompete, weil der Vater ihr keinen Gesangsunterricht geben wollte, bevor sie 18 Jahre alt war und stattdessen darauf bestand, dass sie ein Blasinstrument spielte, das ihr half, eine gute atemtechnische Grundlage zu entwickeln.

Ein Stipendium brachte sie 24jährig an die Römische Oper, wo sie vom musikalischen Direktor Gianluigi Gelmetti eingeladen wurde, Proben und Vorstellungen zu beobachten und auch mit ihm zu arbeiten. Gewonnene Preise bei verschiedenen Gesangswettbewerben, die nach ihrer Meinung am Beginn zur Kontaktknüpfung sehr wichtig, aber kein Indikator für die zukünftige Entwicklung sind, hatten Konzert-Engagements u.a. in Sydney und Wien zur Folge, außerdem trat sie bei der Accademia  di Santa Cecilia in Rossinis „Il Signor Bruschino“ in Erscheinung. Einen großen Schritt bedeutete 2007 ihr professionelles Bühnen- Debut als Lucia di Lammermoor bei der AsLiCo – eine Partie, mit der sie mittlerweile unter anderem auch in Tel Aviv, Neapel, Venedig, Florenz, Genua, Zürich und Berlin gastiert hat.

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Jessica Pratt als „Gilda“ / Sevilla 2013

 Bewunderter und bewundernder Belcanto

 Jessica Pratt ist sehr dankbar dafür, dass ihre Stimme aus natürlicher Veranlagung zum Belcanto-Fach tendiert, das sie auch als Hörerin bewundert. Sie musste sich also nicht bewusst auf den Belcanto spezialisieren, zumal bislang auch alle Rollenangebote in diese Richtung gegangen waren.

Bad Wildbad holte sie gleich wieder ein Jahr nach ihrem ersten Erscheinen für die konzertante Aufführung einer Rarität: „La sposa di Messina“ des Rossini-Zeitgenossen Nicola Vaccaj, wo sie in der Titelrolle trotz einer Erkältung eine bewundernswert kontinuierliche Form wahrte und dank eines Mitschnitts, ebenso wie im anfangs erwähnten „Otello“, auf CD verewigt ist.

Bald folgten weitere Belcanto-Juwelen Schritt auf Schritt:  „La Sonnambula“ in Venedig, Bellinis Giulietta in Reims, die „Puritani“-Elvira in einer Gemeinschaftsproduktion von Cremona, Brescia, Bergamo und Como, Gilda in Parma und Sevilla, von Rossini auch „Demetrio e Polibio“ in Neapel,  Amira in „Ciro in Babilonia“ beim Caramoor Festival und 2012 in Pesaro mit folgendem DVD-Mitschnitt, und die Matilde in „Guillaume Tell“ beim gemeinsamen Rollendebut mit Juan Diego Florez als Arnold in Peru. Aufgrund der hier sehr geforderten Mittellage wird sie diese Partie vorerst wieder ruhen lassen. Als Ausflug ins virtuose Opern-Musical folgte noch die Cunegonde in Bernsteins „Candide“ in Rom.

 Idole und Ansichten

 Auf ein Vorbild unter den großen Belcanto-Diven angesprochen, bekennt sie sehr viele zu haben, aber sich selbst in keiner speziellen Tradition zu sehen, denn das Schöne an der Kunst bestehe darin, dass jeder Sänger etwas Besonderes und persönlich Einmaliges anzubieten habe, das nur er/sie zur Verfügung stellen kann. Wichtig erscheint es ihr, die Stimme so gut wie möglich für eine Interpretation des jeweiligen Charakters zu nutzen, die sich in vertretbaren Variationen mit dem decken sollte, was der Komponist geschrieben hatte.

 In den oftmals für unsere Zeit schwer rezipierbaren Stoffen und Handlungen von Belcanto-Opern sieht Jessica Pratt kein Problem, weil sie viele von ihnen als gar nicht so weit hergeholt betrachtet. Sie erscheinen für unsere moderne Auffassung nur deshalb fremd und seltsam, weil die darin behandelten Charaktere unterschiedliche soziale Beschränkungen haben. Dennoch gäbe es z.B. auch heute noch junge Mädchen, die in arrangierte Ehen gezwungen werden, oder Menschen, die ihre Angetrauten in leidenschaftlicher Rage verletzen oder töten. Auch wenn  diesbezügliche Verhältnisse in der westlichen Gesellschaft nicht so ausgeprägt sind und wir in der Liebe eine freie Wahl treffen können, bedeute dies nicht, dass eine im 14. Jahrhundert spielende Oper für ein modernes Publikum unzugänglich ist. Wie lässt es sich denn erklären, dass es genug Menschen gibt, die sich in den Kinos z.B. im 16. Jahrhundert angesiedelte Filmdramen und romantische Novellen anschauen? Wenn wir nur Dinge wie in unserem täglichen Leben innerhalb unserer Kultur und nichts Anderes sehen würden, wären wir eine sehr ungesunde Gesellschaft.

 Bedeutende Debuts und Zukunftswünsche/-pläne

 Auch wenn Jessica Pratt bereits 2009 ihr Debut an der Mailänder Scala als Primadonna in einer europaweiten Live-Übertragung von Donizettis „Viva la Mamma“ gegeben hatte und 2011 als Königin der Nacht erstmals an Londons Royal Opera House Covent Garden aufgetreten war, ist sie im deutschsprachigen Raum immer noch ein Geheimtipp, während sie in Italien und auch in Australien bereits ein großes Rennomée genießt. Und das obwohl sie mit ihrem zwischen Lyrik, Dramatik und Koloratur äußerst flexibel und in allen Anforderungen eine gleichermaßen hohe Klangqualität aufweisenden Sopran erste Wahl darstellt und sich hinter keiner ihrer großen Vorgängerinnen zu verstecken braucht. Ihre Fähigkeiten, die Stimme je nach Rollencharakter zu schattieren, ihr farblichen Schimmer, aber auch lebendigen Impetus und Attacke, eine geschmackvolle Linie und gleichzeitig Spontaneität zu geben, zeichnen sie in Verbindung mit engagiertem und beweglichem Agieren als unverzichtbare Fachkraft für den Belcanto aus, bei dem sie vorerst bleiben und ihr Repertoire mit der Zeit um einige stimmentwicklungsgemäß schwerere Partien wie die Donizettis „Maria Stuarda“ oder Bellinis „Straniera“ ergänzen möchte.

 Gerne würde sie in einigen  ihrer großen Rollen, die sich auch im Repertoire der Wiener Staatsoper befinden, an diesem berühmten Haus gastieren, wo sie einst durch ein Stipendium  als Blumenmädchen im „Parsifal“ unter Christian Thielemann mitgewirkt hatte.

Neben weiteren Lucias, nächste Saison sowohl an der Scala als auch bei ihrem Debut in Amsterdam, Auftritten als Ines in Meyerbeers „L’Africaine“ in Venedig sowie ihrer Japan-Premiere mit einem Solo-Recital wird in der Saison 13/14 ihr Rollendebut als Violetta in Melbourne im Mittelpunkt stehen. Die bei vielen Sängerinnen unvereinbaren drei Disziplinen dieser Verdi-Partie dürften für sie eine optimale Gelegenheit sein, ihren gesamtheitlichen künstlerischen Status zu beweisen.

 Hohe Auszeichnung und spannende Zukunft

 In Fachkreisen hat sie sich indessen einen solchen Namen geschaffen, dass sie in diesem Jahr mit der hohen Auszeichnung der Lina Pagliughi-Medaille gewürdigt wurde – für Jessica Pratt eine besondere Ehre, gehören doch zu den bislang damit ausgezeichneten Sängerinnen mit Joan Sutherland und Mariella Devia auch zwei ihrer Vorbilder.

 Aktuell lebt Jessica Pratt in Como und bereitet ihr Repertoire mit der Sopranistin Lella Cuberli vor. In ihren ersten Jahren in Italien hatte sie auch mit Renata Scotto gearbeitet. Als großen Schritt nach vorne ist ihr Debut als Giovanna d’Arco“ beim diesjährigen Martina Franca Festival zu betrachten, doch handelt es sich dabei um eine vorläufige Ausnahme, bei der es ihr wichtig war, mit ihrer Interpretation auf die Belcanto-Wurzeln der frühen Verdi-Opern hinzuweisen. Hoffen wir, dass sie international, auch an den ersten Bühnen, ihre Trümpfe als Belcanto-Spezialistin ausspielen und ein möglichst breites Publikum damit begeistern kann.                                                           Udo Klebes, August 2013

 

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