Jeremy Adler:
GOETHE
Die Erfindung der Moderne
Eine Biographie
656 Seiten, Verlag C.H.Beck, 2022
Letztendlich ist es eine Goethe-Biographie mehr, die aber dann doch aus mehreren Gründen „anders“ ist als jene, die man kennt. Zuvörderst ist ihr Autor Brite, und der Blick von außen unterscheidet sich von der – durch tausend unbewusste Voraussetzungen geprägten – deutschsprachigen Innensicht auf den Dichter (falls man das „Universalgenie“, das Goethe in den Augen von Jeremy Adler ist, auf diese Funktion reduzieren will).
Jeremy Adler, Sohn eines gebürtigen Österreichers, viele Jahre lang seines Zeichens Professor für deutsche Sprache am King’s College London, der schon ein eigenes Werk über die „Wahlverwandtschaften“ herausgebracht hat, schildert auch die Entstehung dieser voluminösen „deutschen“ Goethe-Biographie. Anfangs hatte er nur eine mehr oder minder kurze Einführung für englische Leser im Sinn, die nicht viel von Goethe wissen (so wie er Kafka einen „Overlook“ für seine Landsleute gewidmet hat). Als die Idee einer deutschen Ausgabe im Raum stand, wollte er nicht nur eine Übersetzung, sondern sein Werk auch für das kenntnisreichere Publikum „erweitern“. Was dermaßen ausuferte, dass nun ein eigenes Buch entstanden ist. 654 Seiten immerhin, der Anhang beginnt auf Seite 543.
Besonders wichtig ist ihm die Einleitung, 18 Seiten lang. Darin bekennt sich Adler erstens, was hierzulande kaum jemand wagen würde, als fanatischer, faszinierter Bewunderer von Goethe, dessen Vielfalt und Bandbreite in der Beschäftigung mit Kunst und Wissenschaften ihn faszinieren (das heimische Lächeln über den „Naturwissenschaftler Goethe“ ist ihm fremd). Diese Einleitung ist vor allem dazu gedacht, das Netz ganz weit auszuwerfen, in alle Nationen und alle Wissensgebiete, um Goethe-Bewunderer zu finden und zu zitieren. Sie sind tatsächlich zahlreich (die Zweifler schiebt er beiseite, negative Aussagen will er nicht wissen).
Tatsächlich macht der Brite auf Dinge aufmerksam, die man hierzulande gar nicht wahrnimmt – was bedeutet es immerhin, dass man von einer „Goethe-Zeit“ spricht und dies absolut positiv besetzt ist, sprich: Einmal definiert sich eine Epoche (natürlich gingen die Napoleonischen Kriege vielfach parallel) nicht nur durch Kriege, Wirtschaftsphänomene oder Kunstepochen, sondern durch einen einzelnen Mann, der kein politischer Herrscher war. Es wird dafür nicht viele vergleichbare Beispiele geben.
Allein dieses Vorwort beinhaltet 100 Anmerkungen. Adler bleibt sich und den Lesern an Referenzen und wissenschaftlichem Background nichts schuldig – ganz ohne zu ermüden… Dass er unverständliche Sprache meidet, mag ihm das Naserümpfen der „Wissenschaft“ eintragen, erfreut aber den Leser. Tatsächlich begegnet man bei Adler der hoch geschätzten, von den Deutschen selten gepflegten, sozusagen „britischen“ Qualität des gut lesbaren Biographien-Schreibens, das von der Wiege bis zur Bahre führt, ohne dabei langweilig konventionell zu sein. Adler muss nicht, wie mancher Kollege, immer wieder darauf hinweisen, wie gescheit er ist, man merkt es auch so. Bei ihm wird man zum Weiterlesen geradezu verlockt, ohne dass es der Autor billig gäbe.
Dabei sind für ihn die Interpretationen von Leben und Werk wichtiger als die Realitäten des täglichen Lebens – darum kommen auch die Frauen vergleichsweise kurz. Aber Goethe und die Frauen hat man oft genug gelesen, während anregende Exkurse zu Zeitgenossen oder auch in Goethe Werke tief hinein nicht so häufig sind. Natürlich lässt er sich vor allem auf die Hauptwerke ein, und das auf sehr persönliche, stets anregende Art. Immer wieder denkt Adler, der gerne Goethe-Texte und vor allem Goethe-Gedichte einstreut, in überraschende Richtungen. Das macht sein Buch sowohl für Goethe-Interessierte wie für Goethe-Kenner gleich spannend.
Die Frage bleibt, ob der „neue Aspekt“, der mit dem Untertitel „Die Erfindung der Welt der Moderne“ postuliert wird, sich in dieser Biographie erfüllt. Dass Goethe zwar heute die Last des so definierten „Klassikers“ trägt (was ihn bei manchen zur Staubfänger-Büste reduzieren mag), hat eigentlich nie die Erkenntnis darüber verstellt, dass er ein Mann war, der den Blick nach vorne gerichtet hat. Schließlich hat ihn Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach nicht in erster Linie für Verwaltung (auch wenn es dann vor allem darauf hinaus lief), sondern für Reformen engagiert.
Man sieht in Goethe oft das Ende einer Epoche (und sympathisiert mit denen, die nach ihm kamen). War er ein Vorreiter? „Goethe veränderte das Gesicht der Welt durch die Kraft seines Genies“, schwärmt Adler. Interpretieren lässt sich vieles. Wichtig ist: Hier hat man eine Goethe-Biographie im englischen Stil. Sie ist von Begeisterung getragen, klug, reichhaltig und verdammt gut zu lesen.
Renate Wagner