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Jens Malte Fischer: KARL KRAUS

24.04.2020 | buch, CD/DVD/BUCH/Apps

Jens Malte Fischer
KARL KRAUS
Der Widersprecher
1102 Seiten, Paul Zsolnay Verlag, 2020

Dieses Buch hebt  so schön wie originell an, denn Jens Malte Fischer lädt den Leser gleich zu Beginn (kein persönliches Vorwort) zu einem Spaziergang ein: nämlich durch die Wohnung von Karl Kraus, wie die Nachwelt sie von Fotos her kennt. Von 1912 bis zu seinem Tod 1936 bewohnte er zweieinhalb Zimmer in der Lothringerstraße 6, also sehr zentral im Ersten Bezirk in Wien. Arbeitszimmer, groß, Schlafzimmer, klein, Bad und ein Vorraum. Behutsam führt der Biograph durch die ganz private Welt des Karl Kraus, für den es die wahre Bezeichnung noch nicht gibt, Journalist und Dichter, der auch Lyrik und Dramen schrieb, seine Aufgabe aber in unaufhörlicher, unerbittlicher Kritik seiner Welt und seiner Zeit sah.

Dieser Karl Kraus (1874-1936), der seine eigene Zeitschrift „Die Fackel“ gründete und sich damit jene völlige Unabhängigkeit sicherte, die ihn von so gut wie allen Kollegen unterschied, war schon zu Lebzeiten ein Faszinosum und permanentes Ärgernis zugleich, hatte leidenschaftliche Anhänger und ebenso leidenschaftliche Gegner. Und irgendwie hat sich dieses „von der Parteien Gunst und Haß verwirrt“ bis heute gehalten. Darum muss ein Biograph auch vielleicht nachdrücklicher Stellung beziehen als bei einer weniger umstrittenen Persönlichkeit.

Im Nachwort, klein gedruckt, kurz und bescheiden, bekennt Jens Malte Fischer gewissermaßen lebenslange Bewunderung. Es ist eine kleine Geschichte für sich, dass der Germanistik-Student in München ein Kafka-Seminar belegte, in der Universitätsbibliothek – Buchstabe K – zufällig einen Kraus-Band entnahm, zu lesen begann… Und die Verfallenheit, bestärkt durch eine Helmut-Qualtinger-Lesung der „Letzten Tage der Menschheit“, drückte sich in einer Dissertation aus und krönt nun ein Schriftsteller-Leben, das auch Gustav Mahler und Richard Wagner biographisch gewidmet war, mit einem Buch über Karl Kraus, das nun 1102 (man muss es ausschreiben: eintausend / einhundert / und zwei) Seiten umfasst.

Nach dem Wohnungsbesuch beginnt es quasi auf die übliche Weise mit der Schilderung von Kindheit und Jugend (wobei niemand wohl ausreichend begründen kann, warum Kraus so vehement vom jüdischen Glauben der Familie abrückte, warum ausgerechnet er später zum Katholizismus konvertierte). Und dann stockt man schon, wenn der Autor – elfhundert Seiten kommen nicht von ungefähr zusammen – die Lebenswelt von Kraus schildert, das Wien zwischen dem Ende des 19. Jahrhunderts und dem Fin de Siècle, und es wird klar, dass man es hier absolut nicht mit einer Biographie im klassischen Sinn zu tun hat, die ein Leben nacherzählt. Vielmehr hat Fischer alles, was es zu Kraus zu wissen und zu sagen gibt, in ein wahres Kompendium verpackt, das man eigentlich auch in ausgewählten Kapiteln, die einzeln fast spezielle wissenschaftliche Untersuchungen ergeben, lesen kann.

Alles über Kraus also, in besonderer Ausführlichkeit, in Einzelartikel aufgespalten, die dem Leser Geduld, langen Atem und viele Lesestunden abverlangen. Fischer nimmt sich Zeit vor allem für die zeitpolitischen Überlegungen, für Analysen des Zeitgeistes, für Querschnitt-Themen (Kraus und das Theater vielfach betrachtet, erst seine frühe Theaterwelt mit dem Burgtheater, die eigenen Ambitionen als Schauspieler, später seine Stücke und seine Auseinandersetzungen mit Nestroy). Aber auch „Tiere und Pflanzen“ (wer käme darauf?) sind ihm Überlegungen wert, man liest von Kraus’ Liebe zu Hunden, von seiner Liebe zum Wasser…

Nun ist Karl Kraus, man weiß es, und Jens Malte Fischer muss sich ununterbrochen damit auseinandersetzen, ein hoch umstrittener Mann. Wer über ihn schreibt, bezieht Stellung. Hier ist es die eines Bewunderers. Der natürlich seine Schwierigkeiten hat. Denn Kraus macht es der Nachwelt nicht leicht. Es ist schwer – man sieht, wie der Autor sich plagt – ihn beispielsweise vom „jüdischen Selbsthaß“ frei zu sprechen, der ein Lieblingsargument der Gegner war (und ist). Schließlich meinte Kraus, der Antisemitismus würde sich von selbst erledigen, wenn die Juden ihre Schläfenlocken abschnitten, aufhörten zu „mauscheln“ und Christen heirateten… (!) Und die Aufgabe des Biographen wird  besonders schwer, wenn Kraus gewissen Persönlichkeiten, die wir zu „verachten“ gelernt haben, positiv gegenüber stand. Ob Thronfolger Franz Ferdinand, ob Engelbert Dollfuß, sie erfreuen sich (besser: erleiden) heute die schlechteste Presse eines zerstörten Images. Wie erklärt man, dass Kraus, der Gott und die Welt leidenschaftlich herunter machte, gerade hier nicht zuschlug, mehr noch, vom Tod beider tief betroffen war?

Ein liebender Biograph wird auch – vielleicht unbewusst – versuchen, dort zu beschönigen, wo es eigentlich nicht angebracht ist. Kraus hat, noch bevor er 1899 „seine“, ganz ihm gewidmete „Fackel“ begründete, die es ihm ermöglichte, alle, die es ihm wert und unwert schienen, mit seiner sprachlichen Wucht zu verfolgen, zu verdammen, zumindest schwer zu beleidigen, schon 1896 mit „Die demolirte Litteratur“ mit jenen Griensteidl-Kaffeehaus-Literaten abgerechnet, die ihn auch nicht leiden konnten. Einer davon war Arthur Schnitzler, dem Fischer (wie vielen anderen Einzelpersönlichkeiten) ein eigenes Kapitel widmet.

Nun spürt man genau, wie Fischer Arthur Schnitzler schätzt, besonders dessen Roman „Der Weg ins Freie“, worin er ein meisterliches Porträt der verschiedenen jüdischen Lebensentwürfe im Wien um 1900 (immerhin predigte Herzl schon den Zionismus) entworfen hat, sich intensiver und positiver mit dem Judentum auseinander setzend, als Kraus es je wollte oder tat (Er und Franz Werfel, beide Juden, beschimpften einander übrigens haßerfüllt als „Juden“, was gewissermaßen drollig ist).

Nun möchte Fischer die Kluft zwischen Kraus und Schnitzler, weil er selbst beide so schätzt, nicht so tief erscheinen lassen, wie sie war. Er unterspielt die Gemeinheiten, die in den Schnitzler-Herabsetzungsartikeln von Kraus stehen, und er zitiert Schnitzlers Bewunderung für „Die letzten Tage der Menschheit“, die für dessen ausgewogenes Urteil stehen. Wenn Fischer am Ende des Artikels (hier ist der Wunsch der Vater der Formulierung) hoffen möchte, es hätte zwischen den beiden eine „achtungsvolle Einstellung“ gegeben, so beschönigt er und unterschlägt Schnitzlers Urteil, als er vom Kern des Kraus’schen Wesens sprach: „Und dieser Kern ist Niedrigkeit.“

Schön auch, wie Fischer in einem Buch, das sich ja doch als historische Auseinandersetzung mit vergangenen Ereignissen versteht, bis in die Gegenwart zum flammenden Ritter seines Idols wird, der gegen jene ins Feld zieht, die ihn verunglimpfen. Das waren u.a. Fritz J. Raddatz und Marcel Reich-Ranicki, die sich an Kraus mit vielen Irrtümern, Klischees und Halbwahrheiten billig und flüchtig abgearbeitet haben und denen er die Leviten liest…

Es ist unmöglich, auch nur annähernd auf alles einzugehen, was Fischer in seinem Buch anspricht, dazu ist es zu ausführlich. Und er hat, wie erwähnt, mit seinem Objekt (um nicht Subjekt zu sagen) ja immer wieder Schwierigkeiten. Wie redet man Karl Kraus, wenn man schon ehrlicherweise davon spricht, aus einer Beziehung wie jener zu Irene Karczewska sauber heraus? Die war nämlich vierzehneinhalb Jahre jung, als Kraus sich mit ihr vergnügte, was ihn eigentlich in die Reihe der Kinderschänder wie Peter Altenberg und Adolf Loos (beide seine Freunde) stellen würde. Fischer verteidigt, dass Mädchen in der Monarchie ab 14 für heiratsfähig galten, dass die sehr junge Dame ja schon einschlägige Erfahrungen hatte und es auch andere aus Kraus’ Umkreis (beispielsweise Fritz Wittels) mit ihr – trieben. Kraus war kein Pädophiler, darauf besteht Fischer, und ehrlich, aus der Distanz ist es auch völlig egal. Der Biograph möchte wohl bloß nicht, dass irgendjemand die Geschichte sensationell aufbereitet, wie es Ulrich Weinzierl etwa mit den geheimen perversen Gelüsten von Stefen Zweig getan hat…

Wie viel Karl Kraus sich von Frauen bieten ließ, ermisst man aus der in allen Details dargestellten Beziehung zu Baronin Sidonie Nádherny von Borutin, die immer als „Lichtgestalt“ in seinem Leben galt, weil er ihr so schöne Briefe geschrieben hat. Tatsächlich war die Dame, von der man zwar nicht ihre Briefe, wohl aber ihre Tagebücher kennt, in höchstem Maße promiskuitiv, und Anbeter Karl Kraus schob ihr Verhalten, das in ihren Aufzeichnungen sogar von leichter Verächtlichkeit zeugt, offenbar auf weibliche Exzentrik. Liest man, was er sich von ihr alles gefallen ließ, könnte er einem leid tun – geht man durch das Buch, das aus den unaufhörlichen Attacken eines „Widersprechers“ gegen seine Mitwelt erzählt, versiegt das Mitleid.

Wie gesagt, eine klassische Biographie ist es nicht geworden. Aber was Fischer für manchen Leser schuldig geblieben sein mag, schlicht und einfach auch den Ablauf eines Lebens (was ja nicht grundsätzlich uninteressant ist), bekommt man im Anhang auf immerhin 24 Seiten einer detaillierter Chronik geboten. Damit ist das wirklich bewundernswerte Kraus-Kompendium auch auf diese Art komplett. Dass ein Mensch in seinem Widerspruch auch nach so viel Bemühen ein Mensch in seinem Widerspruch bleibt – wie könnte man sich darüber wundern?

Renate Wagner

 

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