Hg. Marcus G. Patka, Sabine Fellner
JEDERMANNS JUDEN
100 Jahre Salzburger Festspiele
308 Seiten, Residenz Verlag, 2021
Seit nun schon mehr als hundert Jahren erklingen im Sommer die „Jedermann“-Rufe über die Stadt Salzburg, als Marken- und Erkennungszeichen die Festspiele verkündend, die (fast – 1944 fand nicht statt) ohne Unterbrechung Jahr für Jahr durchgeführt werden. Von 1920 bis mittlerweile 2021 – und gerade die letzten Inszenierungen haben gezeigt – was natürlich nicht verwundert -, wie sehr sich Zeitgeist, Weltbild und Theatersprache in einem Jahrhundert geändert haben.
Aus einer möglicherweise verwirrenden Gegenwart begibt man sich gerade in Jubiläumsjahren in die Vergangenheit, und so liegt nun der großformatige Band „Jedermanns Juden“ vor, Begleitpublikation zu einer Ausstellung des Jüdischen Museums in Wien, darüber hinaus aber ein Band, der für alle Zukunft zum fixen Bestand der Festspiele-Literatur zählen wird.
Die große Rolle, die jüdische Künstler in Österreich und ganz Europa bis zur Nazi-Herrschaft gespielt haben, ist bekannt und auch des öfteren behandelt worden. Dennoch kann man die Rolle, die ein Max Reinhardt (und in seinem Gefolge jüdische Interpreten) für die Festspiele spielten, nicht hoch genug einschätzen. Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss waren prestigestarke Künstler, die ihre Werke beitrugen. Aber „Festspiele“ sind ein theatrales Live-Erlebnis, das einmal zum Leben erweckt werden muss. Und das geht auf das Konto von Max Reinhardt, Österreicher mit großer Berlin-Karriere, Regiestar seiner Zeit, und seine Leistungen als Regisseur werden im Buch gewürdigt.
Die ganz großen jüdischen Namen rund um Salzburg beinhalten Oscar Strnad, der als Ausstatter Reinhardts Visionen optisch umsetzte, Bruno Walter als hoch geschätzter Dirigent, Arnold Rosé, den Konzertmeister der Wiener Philharmoniker. Ein eigenes Kapitel wird den jüdischen Künstlern gewidmet, die auf der Bühne unverzichtbarer Bestandteil der Festspiele waren – und später froh sein konnten, wenn sie „nur“ vertrieben wurden… Das Buch widmet noch jüdischen Tänzern, jüdischen Musikern ausführliches Gedenken, viele Namen kennt man nicht mehr, von der „Geschichte“ zerrissene Leben und Karrieren endeten frühzeitig oder konnten später nicht mehr fortgesetzt werden.
Ja, und auch Hugo von Hofmannsthal gehört dazu, der sich selbst nie als Jude begreifen wollte (schon seine Eltern waren zum Katholizismus konvertiert) und der mit seinem Tod 1929 dem Grauen entkam, dass ihn die Nazis auf seine lieber nicht wahrgenommenen jüdischen Vorfahren zurück geworfen hätten…
Der voluminöse Band, der – natürlich – im Salzburger Residenz Verlag erschienen ist, präsentiert sich zuerst als Schauwerk, bringt Bildmaterial aller Art, von kostbaren Aufführungsfotos bis zu persönlichen Petitessen. Neben dem eigenen Archiv der Salzburger Festspiele haben auch private Leihgeber beigesteuert. Manches verdankt man dem Schauspieler Michael Heltau, der dafür gesorgt hat, dass Max Reinhardts Witwe Helene Thimig nicht einsam und verlassen sterben musste. Fotos und Plakate, die Zeitgenossenschaft reflektieren, sind ebenso wichtig wie Entwürfe und Aufführungsdokumente, die den künstlerischen Teil der Festspiele beleuchten.
Die Einzelartikel, angeführt vom „Pilgerort Europas“ (verfasst von Danielle Spera, der Direktorin des Jüdischen Museums), gehen vielen Einzelaspekten der Salzburger Festspiele nach, die in den Gesamtdarstellungen oft noch nicht aufzufinden waren – wobei der religiöse „Pilgercharakter“, die Verschmelzung von Jüdischem und Christlichem im Licht des Theaters, immer schon ein zentraler (sprich „Jedermann“) Aspekt der Salzburger Festspiele war. Der Begriff des „Jüdischen Oberammergau“ ist haften geblieben.
Entsprechend setzt man sich auch mit dem Katholizismus Salzburgs (das später eine Stadt mit starker Nazi-Überzeugung war) ebenso auseinander wie mit dem Katholizismus von Hugo von Hofmannsthal, der sich wünschte, im Tod in eine Franziskanerkutte gekleidet zu werden (es gibt ein Foto davon…).
Reiche Juden wie Paul Hellmann waren Förderer der Festspiele, und um Geld (kein Geld, zu wenig Geld, dringend benötigtes Geld) ging es immer. Es kamen zwar reiche und prominente Gäste, die sich dann mit Trachtenhut fotografieren ließen, die Geschäfte, die auf reiche Kunden warteten, warben damals (wie heute) in den Auslagen für die Festspiele – nicht umsonst hat Hofmannsthal den „Mammon“ im „Jedermann“ eine so wichtige Rolle zugeteilt.
Den österreichischen Antisemitismus gab es schon vor Hitler, bevor er 1938 im „Anschluß“ staatlich verankert und zu einer Mordmaschine wurde, und natürlich hatte die Katholische Kirche ihre Vorurteile gegen die „Jesus-Mörder“ nicht überwunden, natürlich gab es genügend rechte Ideologen, die angesichts der jüdischen Leistungen in Salzburg ihr Gift versprühten. Und das Zerstörungswerk war ja auch erfolgreich.
Je stärker man in die dreißiger Jahre hineinwuchs, wurde der unbeschwerte „kulturelle Sommer“ zur Illusion. Mit dem Aufstieg von Adolf Hitler und seiner persönlichen Bindung an das Werk Richard Wagners und den Wagner-Clan in Bayreuth entstand ein scharfes Konkurrenzgefühl zu Salzburg, das man ja seit 1933 mit der „Tausend Mark Sperre“ seiner deutschen Besucher zu berauben suchte.
Wie viel nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Nazi-Zeit wegzuräumen war, ist das Thema eines der letzten Beiträge, und am Ende stehen die Zurückgekehrten, nicht nur Max Reinhardts „arische“ Witwe, Helene Thimig, die seinen Geist bei den Festspielen zu retten versuchte. Was ja, wie man weiß, a la longue absolut nicht gelungen ist…
Und mit dem klaren Blick, den wir heute zurückwerfen, wissen wir, dass die Vergangenheit bei all ihren glanzvollen Momenten durchaus nicht nur ein Fest war.
Renate Wagner