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JEDERMANNS EIGENER WAGNER: Geck, Kaiser, Fischer, Straub

27.02.2013 | buch, CD/DVD/BUCH/Apps

 

JEDERMANNS EIGENER WAGNER

Das Wagner-Jahr ist da, 1813, vor 200 Jahren wurde er geboren, und Geburtstage, in denen sich die Hunderter runden, fallen auch in das Leben der Nachwelt-Betroffenen meist nur einmal. Da heißt es zuschlagen, und die Wagner-Literatur in deutschen Landen lässt nicht zu wünschen übrig. Einige Beispiele liegen der Merker-Redaktion vor – es fällt auf, dass dabei einiges an „Neuaufbereitung“ von Vorhandenem dabei ist. Das sollte man nicht unbedingt als Faulheit deklarieren, man kann auch dankbar sein, dass klassisches Wagner-Gedankengut wieder zugänglich gemacht wird (wie im Fall von Joachim Kaiser). Biographisches, Einzelbetrachtungen , auch eine Parallel-Aktion zum gleich großen Verdi, der dasselbe Jubiläum feiert (wofür dann in der Literatur vermutlich die Italiener dasselbe leisten wie die Deutschen für Wagner), sind zu begutachten.

Eines wird jedenfalls klar, wenn man allein diese vier Bücher nebeneinander, nacheinander liest: Wagner wirft jeden Menschen auf sich selbst zurück. Er ist eine Frage der Interpretation – und wie wir ihn interpretieren, erzählt von uns selbst. Jeder wird bei ihm das finden, was er finden möchte, und es auch begründen können – allein wie nachdrücklich Jens Malte Fischer (nicht als Erster!) Figuren wie Mime als zutiefst antisemitisch deutet und Joachim Kaiser das ebenso heftig und begründet bestreitet, zeigt, dass es keine absolute Wahrheit über Wagner geben kann. Nur so viel Wissen wie möglich. Am Ende holt man sich aus den Büchern dann das heraus, was man selbst zu Wagner denkt und fühlt, ob man liebt oder haßt…

Dass einfach jeder Mensch, der sich für Wagner interessiert, seinen ganz eigenen Wagner hat, kann vielleicht am besten eine Anekdote erhellen, die Martin Geck in seinem Buch mitteilt: Als Adolf Hitler erstmals „Rienzi“ gehört hatte, erlebte er seine Vision vom nationalsozialistischen Weltstaat. Als Theodor Herzl „Rienzi“ hörte, notierte er in seinem Tagebuch: „Heute abend habe ich gesehen, dass wir Jerusalem zurück erobern werden.“

Jedermanns eigener Wagner…

Martin Geck:
Wagner
Biographie.
414 Seiten, Siedler Verlag, 2012

Martin Geck ist Musikschriftsteller auf breitester Ebene (Bach, Mozart, Schumann), aber sein Spezialgebiet ist Richard Wagner, dem er auch schon die Rowohlt-Monographie gewidmet hat. Wer es nun wirklich ganz genau wissen will, ist mit Gecks Biographie, die er so schlicht wie umfassend „Wagner“ nennt, wirklich optimal bedient. Man muss sich die Zeit nehmen für die über 400 Seiten, um auch zu würdigen, was da geleistet wird.

Eine Ebene betrifft das Leben als Chronologie, wobei Geck was man dann auch bei Joachim Kaiser nachlesen kann, betont, wie sehr Wagner die Einheit von Leben und Werk postulierte. Diese Lebensgeschichte zu erzählen, bedeutet auch, jedes einzelne Wagner-Werk zu charakterisieren, in seiner Entstehung, den Einflüssen, den Absichten, natürlich mit Musikbeispielen. Und darüber hinaus mit Interpretationen – immer wieder findet man auf Doppelseiten charakteristische Fotos aus Wagner-Inszenierungen jüngeren Datums, von Wieland Wagner und Chereau bis Schlingensief, mit Anmerkungen des Autors zu den Zugängen. Wichtig sind in diesem Zusammenhang auch die Notenbeispiele (einfach genug, dass jeder, der Noten lesen kann, sie sich auf dem Klavier vorspielen kann), die auf zentrale musikalische Themen und Schwerpunkte hinweisen.

Daneben aber hat Geck zwischen jedes Kapitel eine „Intervention“ eingeschoben, die er „A Propos“ nennt und in denen er jeweils „Wagner und…“ behandelt, wobei es ihm bewundernswert gelungen ist, ausschließlich jüdische Zeitgenossen und Nachgeborene zu wählen. Solche, die selbstverständlich sind wie Meyerbeer oder den Wagner-Verehrer Mahler, solche, die wichtig zur Biographie gehören wie Angelo Neumann, Wagner-Kritiker wie Adorno, schließlich auch solche, an die man auf Anhieb nicht im Zusammenhang mit Wagner dächte wie Sergej Eisenstein, wobei man vielfach wirklich komplett Neues erfährt.

Es ist ein voluminöser Band, in dem man lange „wohnen“ kann, den man aber zu Einzelbetrachtungen einzelner Werke sicherlich auch immer wieder heranzieht.

Renate Wagner

Joachim Kaiser:
Leben mit Wagner
240 Seiten, Siedler Verlag, 2013

Die Zeiten, dass Kritiker sich echter und überregionaler persönlicher Popularität erfreuen, scheinen vorbei. Einer der letzten großen Namen, wo man sich fragte: „Was hat eigentlich xy geschrieben?“ war Joachim Kaiser. Und das basierte auf seiner frappanten Kenntnis der Musikwelt, in der er sich umtat, und auf seiner „Schreibe“. Das Werk Richard Wagners war für ihn immer vordringlich wichtig. Sein „Leben mit Wagner“ erschien 1990, nun ist es wieder greifbar. Und über seine Erkenntnisse ist die Zeit nicht hinweggegangen. Vor allem begeisterten Wagner-„Anfängern“ möchte man das Buch empfehlen, weil es alle Probleme, die für jeden denkenden Wagner-Freund früher oder später auftauchen, seinerseits aufnimmt und meist völlig zufrieden stellend behandelt.

Natürlich steht (wie in allen Wagner-Büchern, es ist der neuralgische Punkt für unsere Zeit) gleich zu Beginn Wagners Antisemitismus im Mittelpunkt, von Kaiser nicht heruntergespielt, aber relativiert innerhalb eines langen Lebens, wo „Wagner und die Juden“ in Koexistenz, in Animosität, in Pragmatismus unweigerlich zusammen gehörten. Antisemitismus war auch ein Teil jener Kapitalismus-Kritik, für die Wagner heute natürlich Sympathien erntet, aber das System war für ihn mit den Juden verbunden.

In der Folge interessiert ihn Wagner „nicht als genialer Patient, sondern als genialer Produzent“, als Meister der Szene, Träume und Alpträume. Er schreitet durch die Werke, manche werden eher stiefmütterlich behandelt (etwa „Tannhäuser“), er setzt hingegen ein Schwerpunkt auf das vernachlässigte Frühwerk (allen, die es kaum beachten, liefert Wagner Kanonfutter durch eigene spätere Geringschätzung), als er damit fertig ist, ist schon ein Drittel des Buches um.

Kaiser ist ja doch Journalist und nicht Wissenschaftler, lässt immer wieder einfließen, was sich locker liest und dennoch sinnvoll charakterisiert – etwa wenn Politiker ihm bestätigen, im ersten Akt „Meistersinger“ gehe es zu wie in einer Fraktionssitzung… Man lernt unendlich viel bei ihm und tut sich nicht schwer, weil er sich nicht versteigt. Das ist angenehm. Einen Exkurs gibt es noch zu Thomas Mann, der sich in „liebendem Schwanken“ nie zwischen Bewunderung und Distanz entscheiden konnte. In diesem Sinn gleicht er vielen Wagner-Liebhabern.

Renate Wagner

Jens Malte Fischer:
Richard Wagner und seine Wirkung
320 Seiten, Paul Zsolnay Verlag, 2013

Auch das Buch von Jens Malte Fischer ist nicht neu, die einzelnen Artikel sind alle schon einmal erschienen (wie man den Nachweisen am Ende entnimmt), und man hätte sie vielleicht unter einem anderen Titel zusammen fassen sollen. Denn die Erwartungen erfüllen die gebotenen Themen nicht. Wobei das (neue) Vorwort unter dem Bezugstitel „Wagners Wirkung bedenkend“ das Hauptgewicht auf den Antisemitismus legt, den offenbar jeder Autor abhandeln muss, bevor er weiterschreiten darf. (Wird das im Luther-Jahr dasselbe sein, dass man Qualitäten erst anerkennen wird, wenn man dessen Antisemitismus abgearbeitet hat?)

Immerhin geht es hier dann auch um grundsätzliche Begriffe wie das „Gesamtkunstwerk“, und an sich sind diese Bücher ja für ein Mischpublikum gedacht – jene, die über Wagner schon schrecklich viel gelesen haben, und jene, die sich ihm als Frischling nähern und erst informiert werden müssen… Wobei es ihnen Fischer nicht immer leicht macht („Der Rausch als Rezeptionsbedingung – das deutet auf die Konsequenz, mit der totalitäre Bestrebungen sich Wirkungsmechanismen des Totalen in der Vision des Gesamtkunstwerks anverwandelten – was nichts darüber besagt, ob darin selbst totalitäre Ideologie transportiert wird“ – das muss man wohl ein paar Mal lesen.)

Die Einzelartikel streifen den Begriff der „Wirkung“ zwar, aber nicht frontal, sondern eher am Rande – wenn es um die Bayreuther Festspiele 1879 geht, hat man eine historische Abhandlung, wenn der Wagner-Gesang an konkreten (und fast durchwegs „alten“) Beispielen analysiert wird, geht es um die Meinung des Autors (tut es das nicht immer?). Wieder Antisemitismus, Ludwig II., das Dritte Reich – die üblichen Verdächtigen unter den Themen. Und schließlich, was immer wirkungsvoll – ja, hier beinahe kabarettistisch – ist, ein fiktives Gespräch zwischen Wagner und Mahler, die sich (als der 1860 geborene Mahler 1883 nach Bayreuth kam, war Wagner eben in Venedig verstorben) nie begegnet sind… und dennoch einen amüsanten Erfahrungsaustausch unter Musikern bieten.

Renate Wagner

 

Eberhard Straub:
Wagner und Verdi
Zwei Europäer im 19. Jahrhundert
352 Seiten, Verlag Klett-Cotta, 2012

Kaum erschienen und schon in der zweiten Auflage – Eberhard Straub, als Fachbuchautor meist historisch, aber nicht als Spezialist in der Welt der Musik unterwegs, hat ein richtiges Thema gefunden. Wagner und Verdi – dass die wahren musikalischen Giganten des 19. Jahrhunderts Zeitgenossen waren, die einander so nahe kamen und sich nie begegneten, einander misstrauisch beäugten und nie zur vollen Wertschätzung des anderen gelangen konnten, das ist schon faszinierend.

Richard Wagner und Giuseppe Verdi, Kinder des Jahres 1813, als Komponisten mehr als nur sie selbst, nämlich auch Symbole ihrer Nationen, fest gefügte Prinzipien sogar: Eine der interessantesten Passagen ist das gut 25seitige Vorwort des Buches, das vom „Geheimnis der Contemporaneität“ spricht, denn auch in verschiedenen Ländern lebt man in derselben Zeit und Welt, und schließlich gab es zahlreiche Orte, in denen Wagner und Verdi nur knapp aneinander vorbeischrammten, Paris etwa oder Wien.

Sie hatten eine Menge gemeinsam, so verachtete jeder den Opernbetrieb, wie er sich ihm im Alltag darbot. Sie hatten beide lange einen schlechten Ruf, Verdi als billiger „Krawallmacher“, Wagner als unerträglicher Neutöner. Verdi langweilte sich bei „Lohengrin“, Wagner parodierte Verdi am Klavier. Wagner beneidete Verdi, der keine Geldsorgen kannte, Verdi beneidete Wagner um die Aufmerksamkeit, die er ohne Unterlass bekam. Es heißt, dass Wagners Nachruhm (Verdi überlebte ihn immerhin um 18 Jahre) Verdis Alter verdüstert hätte, zumal er erleben musste, wie er selbst ja doch „aus der Mode“ kam (was jedem passiert, der alt wird). Beide verdankten dem Vorbild Meyerbeers eine Menge, beide waren große Reisende durch Europa, beide genossen den Rang „nationaler“ Helden.

Danach allerdings kann der Autor die Schicksale der beiden nicht mehr verschränken – sie kommen kaum zusammen. Beide heiraten 1836 zum ersten Mal, beide haben 1842 einen großen Erfolg, Verdi mit „Nabucco“ an der Scala, Wagner mit „Rienzi“ in Dresden, 1875 sind sie in Wien knapp aneinander vorbei. Nur hier (wo Verdi der Liebling von Kaiser Franz Joseph war, Wagner jener von Kaiserin Elisabeth, die ja immerhin eine Cousine von Ludwig II. war) und in Paris kann der Autor die Schicksale kurz verschmelzen.

Sonst erzählt er sie kapitelweise nacheinander, einmal der eine, einmal der andere. Der Autor ist Historiker, nicht Musikwissenschaftler, es geht ihm um die beiden in ihrer Zeit, um die Reflexion des Zeitgeists im Inhalt der Werke, weniger um die musikalische Analyse. Davon bekommt man anderswo genügend zu lesen. Kurz noch ihr Nachleben, die Ideologisierung, das Gegen-einander-Ausspielen. Was die Präsenz im Repertoire betrifft, blieb Verdi immer Sieger – mehr Werke, letztendlich etwas leichter aufzuführen als Wagner.

Das Resüme für Deutschland heute: Die Deutschen blieben Verdi treu und ließen von ihrem Wagner nicht ab. Selbstverständlich. Gewissermaßen gehören sie zusammen. „VW“ – das gigantische Opernerbe des 19. Jahrhunderts.

Renate Wagner

 

 

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