Jana Revedin
FLUCHT NACH PATAGONIEN
Roman
416 Seiten, Aufbau Verlag, 2021
Jana Revedin, geboren in Konstanz, ist im Italienisch-, Französisch- und Spanisch-sprachigen Raum ebenso zuhause wie in Venedig (wo sie mit ihrem Mann wohnt) und in Kärnten (wo sie einen Teil ihrer Zeit verbringt). In Wikipedia kann man ihre breit gefächerte Karriere als Architektin, Architekturtheoretikerin und Schriftstellerin nachlesen. In letzterer Eigenschaft hat sie schon biographische Romane über die zweite Frau von Walter „Bauhaus“ Gropius und über Margherita Revedin, die Großmutter ihres Mannes, geschrieben.
Nun will der Verlag bei ihrem neuesten Buch, „Flucht nach Patagonien“, offenbar weiter die „Frauen-Schiene“ bedienen und erweckt den Eindruck, das Werk handle von Eugenia Errázuriz, der südamerikanischen Millionärin, die in der Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts eine der berühmtesten Mäzeninnen in Paris war: Sie zwang die ihr bekannten Kunsthändler, die Werke Picassos zu verkaufen, sie förderte Igor Strawinsky und den Dichter Blaise Cendrars, und dass sie die Modelle von Coco Chanel trug, als diese noch nicht berühmt war, verhalf der Couturiere zu ihren Kundinnen und ihrem Ruhm. Eugenia Errázuriz, deren Familienvermögen auf Silberminen beruhte (und das ihres Maler-Gatten auf den Kupferminen seiner Familie) und die über zahlreiche Besitzungen in Südamerika verfügen konnte, dem Kontinent, den sie als junge Frau verlassen hatte, wäre tatsächlich eine Biographie wert.
In diesem Buch spielt sie allerdings nur eine Nebenrolle. Tatsächlich steht hier der Architekt, Möbel-Designer und Innenausstatter Jean-Michel Frank (1895 – 1941) im Mittelpunkt, Mitglied eines über Europa verstreuten deutsch-jüdischen Clans (sein entfernter Cousin Otto lebte mit seiner Familie und der nachgerade weltberühmten Tochter Anne Frank in den Niederlanden), er selbst schon in Paris geboren.
Als „Rahmenhandlung“ dafür, Jean-Michel Frank auf den ersten Teil seines Lebens zurück blicken zu lassen, wählt die Autorin eine Seereise mit Eugenia Errázuriz 1937 nach Buenos Aires. Von da sollte es nach Patagonien weitergehen, wo Eugenia große Gebiete besaß und ein Luxushotel errichten wollte – mit Jean als führender Persönlichkeit des Projekts, nachdem sie ihn in Paris schon bekannt gemacht hatte (nicht zuletzt damit, dass sie ihre Millionärs-Freundinnen dazu vergatterte, sich von ihm ihre Wohnungen ausstatten zu lassen).
In Tagebuchnotizen zeichnet Jean nun während der Seefahrt seine Geschichte auf – der Vater, der sich aus dem Fenster stürzt, nachdem zwei weitere Söhne im Ersten Weltkrieg gefallen waren, die nervenkranke Mutter, die von Eugenia geförderte Karriere, jene Epoche seines Lebens, die er im Opium-Rausch in Capri verbrachte, wo Graf Fersen in seiner Villa Lysis schwule Orgien veranstaltete.
Und vor allem die Liebe zu Jugendfreund René, der sich auf dauerndem Selbstzerstörungstrip befand (seltsamerweise erwähnt die Autorin nie seinen Nachnamen: Crevel). Nach Renés Selbstmord 1935 kam Klaus Mann zu seinem Begräbnis – auch er hatte eine leidenschaftliche Beziehung mit ihm gehabt, von Jean wusste er nichts, René hatte es nie für nötig gehalten, Jeans aufopfernde Liebe zu erwähnen…
So war Jean durchaus bereit, 1937 Europa eine zeitlang hinter sich zu lassen. Der jüdische Kapitän seines Schiffes machte ihm in Buenos Aires klar, was den Juden bevorstand, sollte sich die Macht der Nationalsozialisten weiter vergrößern, und Jean fand später die Möglichkeit, vielen Juden unter dem Vorwand, an dem Hotel zu arbeiten, zu Visem zu verhelfen…
Der nächste Teil des Buches spielt dann auf Patagonien, viele berühmte Menschen kreuzen den Weg von Jean, vor allem die damals schon weltbekannte „Fliegerin“ Amelia Earhart, die sie von Buenos Aires nach Patagonien flog, wo sie gleich einer Jagdgesellschaft von Eleonor Roosevelt begegneten. Diese hatte einen Filmassistenten namens „Walt“ im Gefolge, der damals einen Film aus Felix Saltens Tiergeschichte „Bambi“ drehen wollte. In dessen Schlepptau wiederum gefand sich William Thaddäus Lovett, Sohn einer schwedischen Mutter, Patenkind von Greta Garbo, an die 20 Jahre jünger als Jean und die zweite große Liebe seines Lebens. Lovett blieb in Patagonien, um für den Film Naturaufnahmen zu machen, um dann später zu erfahren, dass seine Dienste nicht benötigt wurden, weil Disney sich für eine Zeichentrickversion entschieden hat…
Das Hotel wurde gebaut und hatte ein wechselvolles Schicksal, Jean und Lovett kehrten nach Europa zurück, nur um vor den Nazis zu fliehen, und unvorstellbar tragisch ist das Ende. Es dauerte lange, bevor Jean-Michel Frank – der über Portugal und über Südamerika emigrierte – doch ein Visum für die USA bekam, wo sich Lovett, der Amerikaner war, aufhielt. (Dass er mit Vivien Leigh am Broadway „Romeo et Juliet“ gespielt haben soll, mutet wie eine Erfindung an…).
Lovett war nicht am Pier, um Frank abzuholen, er war kurz davor verunglückt. Als Jean die Nachricht bekam, der im Koma liegende Lovett habe keine Überlebenschance, nahm er sich am 8. März 1941 in New York das Leben. Tatsächlich ist Lovett genesen und fand sich später im Kreis von Eugenia wieder. Und noch ein tragischer Anhang: Jean hatte für die Familie von Otto Frank US-Visa besorgt, aber als diese in Amsterdam ankamen, waren die Franks schon in der Dachkammer untergetaucht (wo Anne Frank ihr berühmtes Tagebuch schrieb), und die rettenden Papiere wurden als „unzustellbar“ zurück geschickt…
Es ist ein ebenso interessantes wie durch die Wechselfälle eines Lebens ergreifendes Schicksal, das die Autorin da schildert und im Nachwort mit dem 80. Todestag von Jean-Michel Frank datiert. Allerdings hätte man all das knapper und präziser in einer Biographie erzählen und zumal mit sicher ausdrucksvollen Bildern bereichern können.
Aber Jana Revedin liebt es zu fabulieren. „Alle Protagonisten und Schauplätze dieses Romans sind authentisch“, hält sie im Nachwort fest, „die Ereignisse und Gespräche können sich so, aber auch anders zugetragen haben.“ Da werden lange Dialoge geboten, da wird in Seelen und hauptsächlich in ihren Leiden gewühlt, da schildert sie ausführlich Orte und Begebenheiten, die tatsächlich „echt“ wirken.
Allerdings ist nicht alles Gold, was glänzt. So gerät die Autorin etwa bei der Schilderung von Felix Salten (der keinesfalls mit Karl Kraus befreundet war!) gewaltig ins Schleudern. Sie überschätzt seine Wiener Stellung als „hochgelobter Theatermann und Kritiker“ gewaltig, meint, dass er „Hofmannsthal und Schnitzler, Karl Kraus und Frank Wedekind durch seine Stücke geformt (??? Was soll das heißen?), in seinen Kritiken bekannt gemacht hatte“, was reiner Unsinn ist und profunde Unkenntnis verrät. Eine lange Liste von Sekundärliteratur bezeugt die Recherchen der Autorin, und doch geriet ihr offensichtlich manches nicht so genau…
Was bleibt? Ein ausführlicher Roman, der dort am interessantesten ist, wo er Faktisches berichtet, statt in Erfundenem zu schwelgen.
Renate Wagner