Online Merker Logo

Die internationale Kulturplattform

Jan Caeyers: BEETHOVEN

01.08.2020 | buch, CD/DVD/BUCH/Apps

Jan Caeyers
BEETHOVEN
Der einsame Revolutionär
Eine Biographie
833 Seiten, mit 47 Abbildungen und 24 Notenbeispielen.
Verlag C.H. Beck, München, 2020

Es ist Beethoven-Jahr, vor 250 Jahren wurde er geboren, und wenn Corona schon viele Veranstaltungen ganz gestrichen hat – Bücher sind davon nicht betroffen. Der Beck Verlag hat zum Thema zwar nichts Neues, aber Klassisches zu bieten. Schon seit die Biographie aus der Feder des flämischen Dirigenten Jan Caeyers 2012 erstmals erschienen ist, gilt das Buch als „Klassiker“. Neu bearbeitet bestätigt sich das bei der nunmehrigen Lektüre. So ausführlich ist wohl kaum einer der Kollegen das Thema „Beethoven“ angegangen. Auf 744 Seiten Text (der Rest gehört dem Anmerkungsapparat) lässt sich schon viel erzählen.

Dabei ist bemerkenswert, dass Caeyers absolut kein „Titanen“-Monument baut, sondern einfach – oder doch nicht einfach, weil mit kaum je erlebtem Detailreichtum – ein Leben schildert, chronologisch, von der Wiege bis zur Bahre, ein bisschen mehr noch: Es freut den flämischen Autor, Beethoven-Vorfahren in Flandern zu finden, und er nennt ihn einmal auch den „flämischstämmigen Immigranten aus der rheinischen Provinz“ in Wien.

Fünf große Kapitel teilen das Leben, das erste, Bonn, führt von 1770 bis 1792 zur Reise nach Wien, die Stadt, die – was niemand wissen konnte – seine (wenn auch nicht sonderlich geliebte) Heimat werden sollte, die restlichen vier Kapitel erzählen vom Aufstieg (bis 1802), von der ersten großen Zeit (bis 1809), dem weitreichenden Ruhm (bis 1816) und schließlich bis zum Ende, wobei der Autor die Jahre bis zu seinem Tod 1827 als „der einsame Weg“ bezeichnet.

Ein Weg ist es, den ein überdurchschnittlich begabter junger Mann geht, der als Musiker in Bonn ziemlich ideale Anfangsbedingungen fand, unkonventionell ausgebildet wurde und als Pianist offenbar wirklich brillierte. Der in Wien in eine Adelsgesellschaft geriet, wo man „Fürstenknecht“ sein musste, um als freier Künstler zu überleben. Der vom gefeierten Klaviertiger nicht zuletzt der Ohrenkrankheit wegen zum hauptberuflichen Komponisten wurde. Und dort der Revolutionär war, den Caeyers im Titel anspricht. Dass Beethoven zwar die meisten seiner menschlichen Beziehungen durch sein ungeduldiges Wesen ruinierte, bedeutet allerdings nicht (dem Titel entgegen), dass er wirklich „einsam“ war. Bis zu seinem Lebensende haben sich Menschen aufopfernd um ihn gekümmert, über die Schwierigkeiten des persönlichen Umgangs hinaus.

Wie hat er gelebt? Wir erfahren es, bis ins Detail (bis in die Wirtshausbesuche mit übermäßigem Weinkonsum). Caeyers befragt alle Quellen, die er finden konnte, diskutiert sie wohl auch mit dem Leser, wo sie widersprüchlich sind. Und er tut noch mehr. Er bleibt nicht nur ganz, ganz nahe an Beethoven dran, an einem „freien“ Musikeralltag, der von der Jagd nach Geld bestimmt war und von dem Schaffen, das seine Berufung ihm auferlegte (die Werkanalysen heben nie so ab, dass der normal musikalisch gebildete Leser sie nicht verstehen könnte).

Caeyers schildert auch die Menschen von Beethovens Umfeld mit großer biographischer Genauigkeit – viele, die sonst einfach mit Namen und Beruf erwähnt werden, gewinnen hier regelrecht Gestalt. Vor allem die Aristokratenfiguren, die Caeyers aus dem Beginn von Beethovens Wiener Zeit zeichnet (allen voran Lichnowsky und Lobkowitz), sind schlechtweg faszinierend, und das Who is Who wird stellenweise weniger zum Gotha als zur Klatschpostille aus Adelskreisen zu Ende des 18. Jahrhunderts. Dass sich die Welt in Beethovens 35 Wiener Jahren faktisch und ideologisch gewaltig änderte (Napoleonische Kriege, zweimal Besetzung Wiens durch die Franzosen, Wiener Kongress, Metternich’sches System), ist dem Autor immer begleitende politische Analysen wert.

Und natürlich geht es auch um die „unsterbliche Geliebte“, sogar drei Kapitel lang, und auch Caeyers hat sich für Josephine Brunsvick-Deym entschieden, wie die meisten Interpreten mittlerweile auch (Antonie Brentano wird in dieser Funktion verworfen, erhält aber ein schönes Porträt), und der Autor hält es für möglich, dass eines von Josephines acht (!) Kindern, Minona genannt, Beethovens Tochter war, gezeugt in jener Nacht, nach der er den legendär gewordenen Brief an die „unsterbliche Geliebte“ schrieb… Und das andere berühmte „private“ Element seines Lebens, der wirklich grauenvolle Kampf, den er um seinen Neffen Karl führte, der geht unter die Haut (und seine lebenslangen Auseinandersetzungen mit seinen beiden Brüdern waren auch schlimm genug).

Beethoven wird von Caeyers nicht idealisiert, im Gegenteil, als oft ganz kalkulierender Opportunist geschildert – aber musste er es nicht sein, bei der Unsicherheit seiner Stellung, in der Unsicherheit dieser Welt? Mehrfach erwog er, Wien zu verlassen, nicht nur nach Kassel, zu Jerome Bonaparte, auch in Richtung Paris oder London. (Und der Autor, der ganz gern das „Was wäre, wenn…“-Spiel spielt, was wäre gewesen, hätte Beethoven statt Goethe Schiller getroffen, fragt auch, wie anders dieses Schicksal aussähe, hätte er wie Haydn den Mut gehabt, alles hinter sich zu lassen und nach London zu gehen.) Als Beethoven nach Paris wollte, die unter Napoleon glitzernde Hauptstadt eines neuen Herrschers, war die Widmung der „Eroica“ vielleicht nicht ohne Berechnung. Nur dass der Kaiser der Franzosen sich schnell als Krieg führender Feind des Landes erwies, in dem Beethoven lebte – und es vielleicht darum besser war, die Widmung wieder zu eliminieren… Es ist nicht der einzige Fall, wo Caeyers ein neues Licht auf Fakten aus Beethovens Leben wirft, neu überlegt, neu bewertet.

Was an dem Buch – befremdet, tatsächlich, zumindest ein wenig, ist die „heutige“ Sprache, die der Autor immer wieder einbringt. Da ist von der „Marke Beethoven“ die Rede, vom „Composer in Residence“ im Theater an der Wien, man liest von Lobkowitz als „Top-Lobbyisten“ der Kunst und von seinem Palais als „musikalischem Forschungszentrum“, Franz Brentano ist ein „Workaholic“. man erfährt vom „sonnenbankbraunen“ Teint des Prinzen Louis Ferdinand von Preußen. Schön ist es, einige von Beethovens Wutbriefen an Verleger als „Schimpfprosa“ bezeichnet zu sehen, aber die Aktivitäten von Johann Strauß dem Älteren mit der „Factory“ des Andy Warhol zu vergleichen, darauf wäre man wirklich nie gekommen…

Und der österreichische Leser wird auch noch allerlei Falsches in flapsigen Formulierungen finden: Maria Theresia hat nicht „die meisten ihrer Töchter mit Bourbonenherzögen in Italien liiert“ – von den Bourbonen-Heiraten ihrer Kinder galten nur drei ihren Töchtern (die weit zahlreicher waren), nur Maria Amalia wurde Herzogin von Parma, die anderen Damen, Marie Antoinette und Maria Carolina, immerhin Königinnen von Frankreich und Neapel-Sizilien. Beethovens Gönner, Erzherzog Rudolph, der jüngste Bruder von Kaiser Franz II / I, wird laufend als Adeliger bezeichnet – Mitglieder des Kaiserhauses waren keine Adeligen, sie waren Mitglieder des Kaiserhauses, und das war ein gewaltiger Unterschied. Besonders sinnlos ist die Formulierung über Erzherzog Maximilian (ein Sohn Maria Theresias): Seines Zeichens jener Erzbischof und Kurfürst, unter dem das Musikleben in Bonn in Beethovens Jugend so blühte, floh er 1894 vor Napoleons Truppen ins heimatliche Wien. Hier zu sagen, dass er mit einer „gemütlichen Besitzung der Habsburger abgefunden wurde“, weil man ihn in das kleine Schloß Hetzendorf abschob – der Vergleich zwischen einem Kurfürstentum und einem Jagdschloß ist wohl noch nie getroffen worden.

Aber das sind Marginalien in einer großen Geschichte, die hier aufgeblättert wird. Daran liest man nicht Tage, sondern Wochen lang. Und man tut es gern. Gefesselt von dem Mann und seiner Zeit.

Renate Wagner

 

Diese Seite drucken