Innsbruck: „CARMEN“ Tanztheater 4.11. 2012 (Uraufführung 19.10.) – Geschlechterkampf
Größen des Ensembles – Clara Sorzano Hernandez (Carmen) und Leoannis Pupo-Guillen (Don José). Copyright: Hermann Posch
Enrique Gasa Valga, der Tanztheaterchef am Tiroler Landestheater, hat sich für seine neueste Choreographie Motiven sowohl aus der Novelle von Prosper Merimée als auch aus der Oper von Georges Bizet bedient, um daraus eine ganz eigene Fassung und Betrachtung zu schaffen. Dabei hat ihn wohl die die Karten nach ihrer Zukunft befragende Titelgestalt dazu verleitet, die Weissagung in Form eines leibhaftigen Orakels in Gestalt einer Tänzerin als Begleitfigur durch das gesamte Stück zu führen. Ein Zusatz, der nicht nur überflüssig ist (auch weil das Sujet dem Publikum allgemein bekannt sein dürfte), sondern durch seinen parallelen Einsatz zu den Handlungsträgern immer wieder die Konzentration auf diese einschränkt. Marie Stockhausen, die mit viel weit ausholender, körperneigungsreicher Symbolik als Ausdruckstänzerin durchaus Eindruck macht, kann jedoch nichts für diese aufgesetzte Funktion.
Nicht zu erschließen vermag sich die Einbeziehung von Wasser, das sich in einem schmalen Graben auf der offenen Seite des Drehbühnenbildes von Helfried Lauckner (Eingang und Galerie einer Zigarrenfabrik und der Stierkampfarena) befindet und als reinigendes wie als (schicksals-) überschwemmendes Element in die Choreographie einbezogen wird. Ansonsten hat Gasa Valga jedoch einzelne Stationen der Handlung zu einem kurzweiligen Abriss der verschiedenen Geschlechtskonfrontationen zusammengefügt. Die Vereinigung aller tragenden und miteinander verstrickten Personen in einer Szene eröffnet dem Stück ebenso spannungserhöhende Momente wie die Präsenz von Carmens Ehemann Garcia, so dass Don José letztlich nicht nur zwischen zwei Frauen zerrieben, sondern neben Escamillo einem weiteren Rivalen ausgesetzt ist. Die Besetzung des Toreadors, der im Kampf mit dem Stier die weibliche Komponente einnimmt, mit einer Frau, hier der zudem passend androgynen und geschmeidig katzenhaften Marta Jaen Garcia, erweitert noch das Kaleidoskop der Verführbarkeit und der Liebe. Letztere ist durch einen über der Bühne schwebenden riesigen Ring versinnbildlicht, der wiederum von einem Trichter durchbrochen wird, durch den der Sand der verrinnenden Zeit und des Schicksals rieselt. Zumal in jenem Pas de deux, wo sich Don José die Erfüllung seiner Beziehung zu Carmen erträumt. Ein Augenblick, wo die Choreographie sich von der sonst meist bodenverhafteten Sprache Gasa Valgas löst und in eine klassisch zeitlose Dimension abhebt.
Tradition und Allgegenwart finden sich auch in den Kostümen von Andrea Kuprian, zumal in der Arena wo die fahnengleich geschwungenen rosa-goldenen Capas die Dringlichkeit der Schritte und Bewegungen noch akzentuiert. Starken Eindruck hinterlässt auch die Gefängnisszene, wo Don Josés Aggressivität gegenüber der ihn besuchenden Micaela sowohl für seinen Ausbruch aus deren konventionellem Leben als auch aus dem Labyrinth an Gitterstäben steht. Zum fatalen Ende fällt ein leuchtend roter Vorhangstreifen von oben, Josés Leben dürfte andeutungsgemäß am Galgen enden. Leider verflacht der Schluss durch den allzu überdeutlichen Einsatz des Orakels, das die Karten von der Galerie zu Boden fallen lässt und (so die Betitelung im Programm) an der letzten Zigarre pafft. Schade, denn die einen Großteil des Abends und eben auch dieses Finale tragende Carmen-Suite von Rhodion Shchedrin mit ihren durch verfremdende Farbgebungen eine vertiefende Dimension erreichenden Klang-Schattierungen hätte ein stärkeres szenisches Äquivalent verdient. Auch die von Dorothea Sessler (Violine), Stefan Neuner (Gitarre und Arrangements) und Matthias Legner (Percussion) live gespielten Sätze aus de Sarasates Carmen-Fantasie sowie traditionelle spanische Musik beleuchten die Vernetzung der Personen in der Wechselwirkung von spanischem Flair und Spiegelung der Emotionen.
Fesselndes Zentrum des Geschehens ist nicht Carmen, der Clara Sorzano Hernández bei aller herausfordernden Bewegungsgabe und ungreifbar leichter Vereinnahmung des Raumes eine etwas zu oberflächlich glatte Politur an verführbarem Reiz beimischt, sondern Leoannis Pupo-Guillen als Don José. Ein Tanzkünstler mit einer fesselnd expressiven Physis, die von totaler raumsprengender Leidenschaft bis zu erbärmlicher Apathie reicht. Da steht wirklich ein Getriebener, der einerseits mit entwaffnendem Charme die Weiblichkeit anzieht, aber an seinen angeborenen Konventionen zerbricht und zum Psychopathen wird. Neben dieser schauspielerischen Sensibilität ist der Kubaner auch als ein Tänzer mit präziser klassischer Sprung- und Dreh-Technik auszumachen. Eine Persönlichkeit mit weitreichenden Möglichkeiten und guten Chancen in einer großen Kompanie mit breitem Repertoire.
Animalische Kraft und eine dennoch fließend leichte Linie machen Roilán Ramos Hechavarria als Garcia wie auch als Stier zu einem anziehenden Rivalen und nachvollziehbaren Objekt für Carmens Lockvogel-Mentalität. Carlos Contreras Ramirez wiederum vereint als Soldatenhauptmann Zuniga jungenhafte Sehnsucht und gereifte Männlichkeit mit spielerisch und technisch deutlich gewachsenem Zuschnitt.
Natalia Fioroni hat als blonde Micaela im passend blauen Gewand trotz wohltuend vermiedener Hausbackenheit der Jugendfreundin und Verlobten Don Josés neben so vielen markanten Erscheinungen nur wenig Chancen ihre Position zu behaupten, lässt aber dennoch ein überdurchschnittlich gutes tänzerisches Vermögen erkennen.
Die weiteren, als Soldaten, Arbeiterinnen, Zigeuner und Toreros eingesetzten Gruppentänzer des Ensembles sind vielfältig eingespannt, nicht nur optisch rahmendes Füllsel, vielmehr Ausdrucksverstärker ganzer Szenen, die auch mal den Rhythmus auf den Boden trommeln. Trotz der genannten dramaturgischen Schwachpunkte kann das Publikum auch hier zu Recht einen eigenständigen Beitrag zu diesem schon sehr ausgereizten Sujet mit einer mehrfach gegenseitig durchdringenden musikalisch-choreographischen Schlüssigkeit mit langem jubelndem Beifall belohnen.
Udo Klebes