Ingrid Erb
VENEDIG IN WIEN
Die Inszenierung des Ephemeren als Spielfeld der Moderne
214 Seiten. Verlag Böhlau, 2023
„Events“ wurden nicht erst in der Gegenwart erfunden (wobei die römischen Gladiatorenspiele den Vorzug hatten, für das Publikum gratis zu sein). Dass man Menschen (kostenpflichtig) zu Großereignissen herbeiholen kann, wenn man Spektakuläres bietet – dafür ist „Venedig in Wien“ ein historisches Beispiel aus dem Jahre 1895. Venedig war damals für die Wiener nicht 600 Kilometer, sondern nur die Strecke zwischen Innerer Stadt und Prater entfernt…
Das künstliche „Venedig“ hatte der – man kann ihn wohl so nennen – „Impresario“ Gabor Steiner , ein Tausendsasa stets neuer Projekte, hier von einen der Meisterarchitekten dieser Zeit, Oskar Marmorek, im Gebiet des damals so genannten „Kaisergartens“ (am heutigen Wiener Praterstern) errichten lassen. Es war ein Themenpark für kurzfristige Unterhaltung – „ephemer“ (flüchtig, vorübergehend) ist das Wort, das Autorin Ingrid Erb für ihre Untersuchung dieses Phänomens findet.
Es gab viele Ansichtskarten dieses Vergnügungsparks (zahlreiche sind in dem Buch abgebildet), die zeigen, wie sorgfältig man vorgegangen war, um die zur Verfügung stehenden 50.000 Quadratmeter Fläche zu nützen. Rund um drei zentrale Plätze gab es Kanäle und Brücken, Palazzi und Gondolieri, um Venedig hier in Wien zum Leben zu erwecken. Dabei ging es nicht um „echte“ Topographie – es ist einfach eine „Idee“ der Lagunenstadt, die hier entstand. Sie ersetzte nicht Rialto- und Seufzerbrücke, Palazzo Vendramin und anderes Berühmte, das die Reichen, die reisen konnten, selbst gesehen hatten. Sie boten „Venedig“ in Essenz für ein Publikum, das es sich nie hätte leisten können, selbst nach Venedig zu fahren. Von den Veranstaltern durch Holzbrüstungen davor geschützt, ins Wasser zu fallen, wussten die Wiener Besucher wohl nicht, dass dieses Risiko im echten Venedig bestand…
Die Möglichkeiten zur Unterhaltung waren reichlich – vom (wienerischen) Biergarten bis zur Gondelfahrt (die Gondeln waren echt venezianisch, die Gondolieri gelegentlich auch), von Theater- und Kabarettaufführungen, wo man dann wieder ganz „in Wien“ war, wo auch immer wieder bekannte Künstler auftaten.
Dennoch konnte man das Wiener Publikum nicht auf die Dauer mit derselben Szenerie reizen – nach etwa sechs Jahren war Schluß, auf dem Gelände wechselten verschiedene, noch kurzfristigere „Sensationen“ ab. Was an alten Bauten von „Venedig in Wien“ noch übrig war, wurde 1916 dann endgültig demoliert.
Autorin Ingrid Erb, ihres Zeichens Bühnenbildnerin und Architektin (sie unterrichtet auch an der Technischen Universität in Wien) bietet nun nicht den nostalgisch-romantisch-schwärmerischen Zugang zu dieser einstigen Wunderwelt, sondern ist infolge ihrer Fachgebiete besonders an der technischen Seite dessen interessiert, was Marmorek damals baute – immer mit der modernsten verfügbaren Technik. Allerdings ermöglichte der provisorische Charakter der Szenerie, auch billige Lösungen zu finden (die venezianischen Paläste waren natürlich nur Attrappen, quasi eine Theaterdekoration). Für Künstler war das eine „Spielwiese“.
Ingrid Erb nennt „Venedig in Wien“ ein Hybrid zwischen Bühnenbild und Architektur. Einerseits technische Leistungsschau, andererseits Inszenierung und flüchtige Illusion. Sie kommt zu dem Fazit: „Vor dem Hintergrund des Aufbruchs in Kunst und Wissenschaft und des Wandels gesellschaftlicher Ansprüche und Wertvorstellungen im Zeitalter der Industrialisierung zeigte die Vergnügungsstadt das Ephemere als Ausdruck der Moderne“
So ganz theoretisch kommt das Buch bei aller gründlichen und bewundernswerten Recherche dann aber doch nicht auf den Leser zu, schon dank seiner Bebilderung. Ein bißchen Nostalgie darf es bei einem solchen Thema auch sein. Und bedenkt man, dass man heute nur digital durch den Garten von Monet wandert und dies schon ein Ereignis sein soll, hat man sich anno dazumal doch etwas mehr Mühe gegeben.
Renate Wagner