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HILDESHEIM/ Theater für Niedersachsen: I BRIGANTI von Saverio Mercadante – Premiere

HILDESHEIM: I BRIGANTI von Saverio MERCADANTE – Premiere
12.9. 2020 (Werner Häußner)


Zachary Bruce Wilson , Robyn Allegra Parton. Copyright: Marie Liebig

Geschlagene acht Jahre brauchte es, bis ein deutsches Repertoiretheater eine Opern-Rarität in seinen Spielplan aufgenommen hat, die 2012 beim Rossini Festival in Bad Wildbad ihre deutsche Erstaufführung erlebt hatte. Und hätte der neue Intendant des Theaters für Niedersachsen in Hildesheim, Oliver Graf, nicht die Augen offen gehalten, wäre es vermutlich noch lange nicht dazu gekommen.

Aber Graf plante zu seinem Einstand eine „Räuber“-Trilogie nach und mit Schiller: Oper, Schauspiel, Tanz. Er wählte dafür nicht Giuseppe Verdis Adaption „I Masnadieri“ von 1847 aus, sondern die elf Jahre zuvor in Paris uraufgeführte Oper eines in Deutschland nach wie vor unterschätzten Zeitgenossen und Konkurrenten Verdis, Saverio Mercadante. „I Briganti“ heißt das Werk, das nun im coronagerecht schütter besetzten – aber ausverkauften – Theater eine heftig beklatschte Premiere erlebte.

Mercadante leitete eine Trias ein, deren zweiter Teil Friedrich Schillers Schauspiel bildet. Ayla Yeginer verantwortet diese „Räuber“ im selben Bühnenbild von Belén Montoliú wie für die Oper, aber mit anderen Kostümen und einer Frau (Nina Karolin) in der Rolle der „Kanaille“ Franz Moor. Der dritte Teil hat am 19. September Premiere: Die Hagener Ballettdirektorin Marguerite Donlon gestaltet mit ihrem Donlon Dance Collective eine 60-Minuten-Uraufführung zum Drama Schillers.

Mit dem viel versprechenden jungen Regisseur Manuel Schmitt – er inszeniert demnächst Boris Blachers „Romeo und Julia“ an der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf und (hoffentlich) einen Britten-Abend an der Oper Frankfurt – hatte diese Premiere alle Voraussetzungen, um die Qualitäten von Mercadantes Auseinandersetzung mit Schillers Stoff endlich in einer wegweisenden Aufführung für das Repertoire interessant zu machen. Der Plan ging nicht ganz auf, aber trotz aller Einschränkungen konnte der Kraftakt in Hildesheim beweisen, dass dieses Werk verdient, beachtet und aufgeführt zu werden.

Das betrifft Musik wie Szene: Trotz eines auf 21 Musiker halbierten Orchesters arbeitet GMD Florian Ziemen – der seinen Anteil an dieser Wiederentdeckung haben dürfte – den spezifischen Belcanto Mercadantes mit Elan und Energie heraus. Mercadante, in Neapel ausgebildet und später dort Nachfolger Rossinis am Teatro San Carlo und seines Lehrers Nicoló Zingarelli am berühmten Konservatorium, imitiert für Paris nicht die moderne französische Opernmusik eines Halévy oder Meyerbeer, sondern verarbeitet die Formen des klassischen italienischen „Melodramma“ in einem neuen musikalischen Sinnzusammenhang. Der Dreiklang von Szene, Arie und Cabaletta wird aufgebrochen, auch Duette, Terzette und das „gran pezzo concertato“ werden neu kombiniert und an den szenischen Fluss angepasst. Mercadante schmiedet die nach wie vor erkennbaren Formen zu größeren Einheiten zusammen, indem er sie durch musikalische Überleitungen verbindet. So wirkt seine Musik vertraut – was ihr den Vorwurf des Konservatismus eingebracht hat – und gleichzeitig erstaunlich neu – was bis heute oft einfach nicht zur Kenntnis genommen wird.

Ziemen legt diese ungewöhnliche Musik so feurig wie sensibel aus. Sicher kann er die klanglichen Einschränkungen nicht einfach ungeschehen machen: Die Balance der Streicher zu den effektvoll eingesetzten Bläsern (mit herrlichen Soli für Horn oder Klarinette) ist prekär, auch lässt die dünne Besetzung keine Gnade zu: Jede Unschärfe in Einsätzen, jede windschiefe Intonation, jeder nur halb ausgefüllte Akkord treten unverhältnismäßig hervor. Aber wo es darum geht, den weiten Bogen zu füllen, den Rhythmus abspringen zu lassen, den Sängern eine geschmeidige Basis zu geben, sind Ziemen und seine Orchestermusiker am Platz. Wie hätte das mit vollem Orchester geklungen! Das Bedauern bleibt, aber es wird überlagert von der Genugtuung, unter den gegebenen Bedingungen ein Optimum erlebt zu haben. Und – Hand aufs Herz: Man möchte nicht wissen, wie solche Werke unter den Alltagsbedingungen kleiner Theater in Italien bis weit über die Mitte des 20. Jahrhunderts geklungen haben.

Ganz ging der Plan auch in der Inszenierung Manuel Schmitts nicht auf. Die Einschränkungen auf der Bühne – einem aus klobigen Balken gefügten Gerüst, halb Labyrinth, halb Gefängnis – sind eklatant: Abstand, keine Berührung, kaum szenische Arbeit mit dem Chor. Doch Schmitt hat aus dem Unmöglichen Profit geschlagen: Das kundig konzipierte Libretto Jacopo Crescinis arbeitet nämlich den Aspekt der vergifteten Beziehungen der Menschen auf der Bühne heraus. Jeder der Protagonisten ist in sich gefangen, auch die Liebe zwischen Ermano (Karl Moor bei Schiller) und Amelia wirkt eher wie ein verzweifelt autistisches Begehren.

Schmitt unterwirft sich nicht einfach der Vorsorge vor dem Virus, sondern wandelt die Notwendigkeit in ein konstitutives Element der Interpretation um: Diese Personen sind tatsächlich unfähig, über das Gefängnis ihres Selbst hinauszukommen. Jede Berührung wäre eine Farce. Das führt zu schmerzhaften Szenen, in denen sich Hände beinahe finden und die Sehnsucht übermächtig wird, jedoch nie eingelöst werden kann. Dass die Konstellationen manchmal wie altes italienisches Steh-Theater wirken, täuscht: Auf den zweiten Blick hat die Statik ihren Grund in den Personen selbst.

Seinen Schlüsseleinfall hat Schmitt für die Szenen mit Chor: Freilich tritt der Opernchor in der Mehrzahl nicht auf, sondern singt gut geschützt hinter der Bühne. Aber die Statisten auf der Bühne, alle mit Abstand gestellt, tragen die historischen Kostüme von Figuren aus Schiller-Dramen: Die Jungfrau von Orleans schwenkt ihre Fahne, Wilhelm Tell zeigt seine Armbrust, man erkennt die rothaarige Elisabeth mit ihrer Krone und Luisa Miller, meint Wallenstein und den Marquis von Posa zu identifizieren. Schmitt hebt also die „Briganten“ Ermanos auf eine metaphorische Ebene: Es sind die mächtigen inneren Antriebskräfte, die Menschen zu allen Zeiten – und in allen Schiller-Dramen – dem Ideal der Freiheit verpflichten. Damit münzt Schmitt auch die dramaturgische Schwäche des Finales um: Ermano verlässt Amelia nicht, weil ihn eine Bande zwielichtiger Spießgesellen an einen „Schwur“ erinnert, sondern weil ihn die Ideale rufen, die Schiller stets beschworen hat. Das gelingt eindrücklich und rettet die Inszenierung davor, wegen der Corona-Auflagen ihre Schärfe zu verlieren.

Für die Sänger sind die Ansprüche exorbitant; Mercadante schrieb für die Pariser Sänger-Elite Giulia Grisi (Sopran), Giovanni Battista Rubini (Tenor), Antonio Tamburini (Bariton) und Luigi Lablache (Bass) – jenes Quartett, das ein Jahr zuvor ebenfalls am Pariser Théâtre-Italien Bellinis „I Puritani“ uraufgeführt hatte. Es wäre vermessen, von der Hildesheimer Besetzung die belcantistische Perfektion zu erwarten, die in die Partien eingeschrieben ist. Robyn Allegra Parton überwindet mit Brillanz im Timbre und ausgeglichenen Registern bald die Spuren nervöser Unruhe und führt ihren Sopran immer sicherer, immer klarer in der verzierten Passagen und merklich ruhigerem Atem in den melancholische lyrischen Momenten.

Auch der Bariton Zachary Bruce Wilson stabilisiert nach anfangs etwas festgefahrener Position der Stimme seinen Ton. Er betont, dass Corrado kein einschichtiger Bösewicht ist. Seine an Donizetti erinnernde Romanze in der Begegnung mit der begehrten Amelia offenbart eine Liebe, die musikalisch ohne Hinterlist gezeichnet ist, sich aber im Duett in die falschen Mittel der Repression verirrt. Wilson arbeitet den inneren Schmerz des zurückgestoßenen Liebenden genauso heraus wie die gewalttätige Seite seines Charakters. Yohan Kim dagegen führt einen dauernden Kampf nicht nur gegen die Spannungen in der gequälten Seele des Ermano, sondern auch gegen die vokalen Zumutungen seiner Partie. Und Uwe Tobias Hieronimis Bass bewegt sich in der großen Szene des leidenden, aber auch in sich verfestigten Vaters Massimiliano weit abseits belcantistischer Basiswerte. Dennoch gelingt es dem Theater für Niedersachsen, auf ein attraktives Werk aufmerksam zu machen, das – so ist zu befürchten – im 150. Todesjahr Saverio Mercadantes die einzige Bühnen-Verlebendigung dieses verdienstvollen Meisters des italienischen Belcanto bleiben wird.

Werner Häußner

 

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