Herbert Lackner:
DIE FLUCHT DER DICHTER UND DENKER
Wie Europas Künstler und Wissenschaftler den Nazis entkamen
208 Seiten, Verlag ueberreuter, 2017
Die Schicksale jüdischer und politischer Flüchtlinge vor den Nazis ist oft erzählt worden – von vielen Überlebenden in Autobiographien, dazu in den zahlreichen Biographien der oft sehr prominenten Betroffenen. Herbert Lackner, Journalist (u.a. bei der von den Sozialisten selbst gekillten „AZ“ und beim „profil“) und Zeithistoriker, geht das Thema nun anders an – chronologisch und nach Schauplätzen. Sein Buch „Die Flucht der Dichter und Denker“ beginnt am 1. September 1939 – als mit Kriegsbeginn die Lage für die Juden im Dritten Reich noch kritischer wurde, als sie davor war.
Lackner führt über die charakteristischen Stationen: Die meisten jüdischen Flüchtlinge wandten sich nach Westen, die USA im Visier, erste Station Frankreich, wo sich in Paris, später an der Küste die Künstler sammelten: Lackner zeichnet die Schicksale parallel, viele kommen an verschiedenen Stationen wieder, über die Pyrenäen, nach Lissabon, auf die Schiffe nach New York.
Da sind sie mit ihrem Anhang, Alfred Polgar, Joseph Roth, Walter Benjamin (der, wie auch Walter Hasenclver und später Stefan Zweig in Südamerika, das Handtuch wirft und Selbstmord begeht), Lion Feuchtwanger, auch Thomas und Heinrich Mann, Werfel mit seiner Gattin, der berüchtigten Alma, die Unangepasste mit den (beiden) jüdischen Gatten und den antisemitischen Bemerkungen sowie der absolut nicht passenden Flüchtlings-Pose – sie bleibt auch für den Autor ein Ärgernis… Da ist Ludwig Marcuse und Friedrich Torberg, Erwin Piscator und Hermann Kesten, Hannah Arendt und Lisa Fittko, Oskar Karlweis und Karl Farkas, Walter Mehring und Hertha Pauli, Alfred Döblin und Anna Seghers und viele andere. In der französischen Fluchthochburg Montauban wurde Daniel Cohn-Bendit geboren, einer von jenen, die später Geschichte schrieben…
Ausführlich geschildert wird die Mission des Varian Fry, von den USA (auf Initiative von Thomas Mann) losgeschickt, in Frankreich jüdische Flüchtlinge zu retten, was ihm in hohem Maße gelang. Da das Leben doch keine Heldengeschichte ist, vermerkt der Autor, dass sich später keiner der Geretteten je bei ihm gemeldet und sich bei ihm bedankt hat.
Weil Lackner selbst natürlich mit der ganzen sozialistischen Elite Österreichs besonders vertraut ist, kommen bei ihm die Flüchtlinge aus diesem Lager – sonst eher wenig beachtet –prominent vor. Darunter beispielsweise jener Sozialdemokrat Otto Binder, den Bruno Kreisky nach Schweden holen konnte und dem dort 1943 eine Tochter namens Margit geboren wurde, die später Heinz Fischer heiratete und lange Zeit Österreichs First Lady war…
In vielen Zitaten wird die Tragödie der Vertriebenen geschildert: „Man geht, wohin man einen noch lässt“, sagte Stefan Zweig, und das ist natürlich eine grundlegende Erkenntnis. Denn viele Staaten schotteten sich angesichts der Flüchtlingswelle ab, die Schweiz und Schweden waren nicht bereit, ihre Grenzen grenzenlos zu öffnen. Das Warten und Hoffen auf Papiere, endlose Bürokratie, die Ängste von Tag zu Tag waren das Schicksal der Flüchtlinge. Franz Werfel nannte sie „ahasverische Bettler auf der Schwelle einer fremden Grammatik und einer fremden Kultur“.
Am Ende erzählen der Galerist John Sailer und der Banker Thomas Lachs, beide als Kinder auf der Flucht mit ihren Eltern, in einem Interview dankenswert unemotional von ihrem Leben dort und hier – und wie der Mensch, als anpassungsfähigstes aller Lebewesen, sich in jeder Situation zurecht finden musst, um zu überleben.
Anzumerken ist, dass der Autor, der ungemein viel zeitgeschichtliches Material zusammen getragen hat, zwar am Ende des Buches in Kurzbiographien aufzeigt, was aus den Überlebenden der Flucht nach dem Krieg geworden ist. Dennoch fehlt ganz dringend ein Register, da ja jeder Beteiligte an so vielen verschiedenen Stellen des Buches vorkommt, dass man sein Schicksal, wollte man es individuelle verfolgen, gar nicht komplett finden kann (es sei denn, man liest das Buch ganz, was viel verlangt ist, wenn man sich etwa nur für Polgar interessiert). Man versteht, dass sich ein Verlag die Mühe eines Personenregisters nicht machen wollte. Man fragt sich nur, ob der Leser nicht ein Anrecht darauf hat.
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Am Ende doch noch ein paar grundsätzliche Bemerkungen. Natürlich ist das Buch im Hinblick auf die gegenwärtige Flüchtlingssituation geschrieben, mit der verständlichen humanitären Warnung, als Gastländer nicht zu versagen. Aber die Eins zu Eins-Rechnung geht nicht auf, dazu sind die Situationen zu verschieden. Gewiß, weder die Juden waren damals noch sind die Flüchtlinge heute grundsätzlich willkommen. Aber der Antisemitismus, den die Juden nicht nur in Deutschland, sondern dann auch in Frankreich oder den USA vorfanden, beruhte auf Neid und Böswilligkeit (wie immer), als Personen fürchtete man sie nicht. Der Antiislamismus heute (den der Autor auf Seite 16 mit dem Antisemitismus einfach gleichsetzt) beruht hingegen auf blanker Angst, auf der Angst, was manche Mitglieder unter den Ankommenden anrichten können, was ja viele Male bereits tragisch bewiesen wurde.
Und zweitens hatten die Juden in ihren Gastländern nichts zu erwarten und waren ganz auf sich gestellt (darum berührt die Häme gegenüber den Hollywood-Studios seltsam, die bereit waren, zahlreiche Schriftsteller als angebliche „Drehbuchautoren“ fürs Nichtstun durchzufüttern – Dankbarkeit wäre da eher angebracht gewesen). Die Flüchtlinge, die heute nach Europa kommen, erwarten (und können erwarten), von einem sozialen System aufgefangen zu werden, das andere erarbeitet haben und bezahlen. Das macht die Situation ja doch sehr verschieden. Flüchtling ist nicht gleich Flüchtling, die Betroffenen auf beiden Seiten erleben es heute anders als damals, als die Nazis zu ihrem verheerenden Kahlschlag ausholten.
Renate Wagner