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Herbert Lackner: ALS DIE NACHT SICH SENKTE

12.09.2019 | buch, CD/DVD/BUCH/Apps


Herbert Lackner:
ALS DIE NACHT SICH SENKTE
Europas Dichter und Denker zwischen den Kriegen –
am Vorabend von Faschismus und NS-Barbarei
224 Seiten, Verlag Ueberreuter, 2019

Man fragt die Prominenten gerne: Was habt Ihr damals getan? Besonders Dichter sollen Rechenschaft ablegen über ihr Verhalten in schlimmen Zeiten. Auch, wie Autor Herbert Lackner meint, um zu begreifen, wie sich das Unheil in kleinen Schritten genähert hat – und oft auch von Geistesgrößen nicht wahrgenommen wurde. Er hat dafür die schlimmen Jahre zwischen dem Erstem und dem Zweitem Weltkrieg herangezogen, als sich eine fest gefügte Gesellschaft auflöste und der Faschismus mit letaler Bedrohung sein Haupt erhob…

Geschichte wird lebendiger, wenn man sie am Beispiel konkreter Menschen erzählt – das ist lange bekannt, die Zahl der populären, „erzählenden“ Sachbücher übertrifft diejenigen, die nach eisigen Gesetzen der Wissenschaft analysieren und sich nur an Fachleute wenden, bei weitem. Hier ist nun ein Who is Who der geistigen Prominenz von einst aufgeboten, schon um für die Jahre 1914 bis 1918 aufzuzeigen, dass wenige von ihnen den Krieg als solchen so verurteilten, wie wir es heute tun. Es waren, und auch so etwas zeigt ein Buch wie dieses, andere Zeiten, in denen andere Wertvorstellungen herrschten.

In tragischen Details ermisst man, dass die Nachwelt (also wir) es immer besser weiß: Nach dem Ersten Weltkrieg hatte Sigmund Freud sein Vermögen verloren und sah sich, wie alle, einer völlig ungewissen politischen Zukunft ausgesetzt. Dennoch schrieb er an Ernst Lothar, dass er anderswo nicht leben wolle und Emigration für ihn nicht in Frage käme. Zwei Jahrzehnte später blieb sie ihm nicht erspart, um zu überleben… was auch als Beispiel für die Radikalisierung zu nehmen ist, die in schier unglaublicher Schnelligkeit voranschritt.

Lackner setzt die politischen Schwerpunkte, und immer gibt es zentrale Gestalten, die zu behandeln sind, wie etwa 1919 in der Räterepublik, wo Rosa Luxenburg und Karl Liebknecht für ihre Überzeugungen ihr Leben lassen mussten. Esoterische Dichter wie Rainer Maria Rilke wurden damals vom politischen Zeitgeschehen ergriffen. Der „Gefreite Hitler“ erlebte das Aufbäumen der Revolution. Die Geschichte schritt voran.

Lackner erzählt von dem Rumpfstaat „Deutsch-Österreich“ und seinen schier unlösbaren Problemen. Von der langsamen Hoffnung auf Aufschwung und Normalisierung. Von der unbeirrten Macht des Antisemitismus (bewiesen an einer Aufführung von Arthur Schnitzlers „Reigen“). Vom Auftauchen des Namens Hitler in der Öffentlichkeit. Von der Konsolidierung des Lebens, die auch einer neuen Kunst (Bergs „Wozzeck“) Raum gibt. Hugo Bettauers Vision „Stadt ohne Juden“ erscheint 1922, eine Ahnung des Kommenden, und verkauft sich gut eine viertelmillion Mal. Und schon radikalisiert sich die Situation zwischen Links und Rechts, während die „Zwanziger Jahre“ angeblich golden, aber auch höchst exzessiv sind, zumal in Berlin. In Wien führen Alma Mahler-Werfel und Berta Zuckerkandl ihre Salons, in denen es nicht nur schöngeistig, sondern auch politisch zugeht. Und dann – Lackners Buch greift immer wieder über Österreich in den deutschsprachigen Raum hinaus – siegt die NSDAP, der Reichstag brennt, die Bücher brennen, Juden sehen sich nach einem Exil um, prominente Deutsche wissen nicht, wie sie sich mit den neuen Machthabern stellen sollen (und wählen oft die bequemste Lösung). Dollfuss wird 1934 während eines nationalsozialistischen Putsches getötet, und in der Zeit bis zum Anschluß hat Österreich ohnedies keine Chance mehr…

In all diesen Stationen sind Menschen wie Stefan Zweig, Alma und ihr Franz Werfel, Arthur Schnitzler, Joseph Roth (sie alle besonders nützlich durch ihre autobiographischen Angaben) ständige Begleiter des Lesers. Sie und viele mehr. Lackner webt die Künstler in die Geschichte – und webt den Leser in die Vergangenheit ein.

Renate Wagner

 

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