Helga Rathjen
TSINGTAU.
EINE DEUTSCHE KOLONIALSTADT IN CHINA (1897-1914)
324 Seiten, Böhlau Verlag, 2021
Als China noch nicht die Weltmacht von heute war, die etwa mit der umwerfenden Skyline von Shanghai und mit ihren Wirtschaftsambitionen die Welt ins Grübeln bringt – sondern das „brave“ kommunistische China des Vorsitzenden Mao:: Da wurde man auf Rundreisen auch nicht ohne Stolz nach „Tsingtao“ gebracht. Um plötzlich vor den Resten einer „deutschen Kolonialstadt“ zu stehen. Einer Kirche (auch wenn man sie mit Lastwägen und Säcken verstellt hat), unverkennbare einstige Repräsentationsgebäude. Ein ideales Klein-Deutschland an Chinas Küste… Abgesehen davon, dass „Tsingtau-Bier“ heute noch in ganz China getrunken wird…
Helga Rathjen hat sich einst lange in dieser Stadt aufgehalten. Ihre Dissertation ist nun als Buch erschienen. Selbstverständlich werden die Ereignisse nicht im Licht einstigen deutschen Stolzes auf die „Kolonie“ gesehen, im Gegenteil. Der Paradigmenwechsel in der historischen Betrachtung greift hier besonders stark. Für „weißes“ Überlegenheitsgefühl und gnadenlose Ausbeutung hat die heutige Welt kein Verständnis mehr.
Deutschland hatte, was seine Weltmacht-Ansprüche in kolonialer Hinsicht betraf, den Zug verpasst. Längst hatten sich die Briten und Franzosen, die Holländer und Belgier und, als früheste „Besatzer“, die Spanier und Portugiesen (diese in Süd- und Mittelamerika) das aufgeteilt, was man lange die „Dritte Welt“ nannte, die mit ihren „farbigen“ Völkern nur dazu da zu sein schien, von den Weißen erobert und regiert zu werden, manchmal auch mit dem Vorwand der Religion bemäntelt (mit dem sich die Deutschen weniger abgaben), während es immer und in erster Linie nur um wirtschaftliche Interessen ging.
Tsingtao oder Tsingtau oder chinesisch Qingdao an der Ostküste Chinas fiel den Deutschen, die unbedingt einen Stützpunkt in Ostasien besitzen wollten, 1897 durch eine Art Staatsstreich zu. Ermordete Missionare als Vorwand nehmend, besetzten deutsche Truppen ein Fischerdorf und erklärten die Gründung ihrer „Kolonie“, die nicht größer war als Hamburg, zu einer „zivilisatorischen Mission“. Das Stück Land war extrem reizlos, aber die Absicht klar: Man wollte etwas hinstellen, das es mit der damals schon glanzvollen britischen Kronkolonie Hongkong aufnehmen konnte. Also wurden die einheimischen Chinesen entfernt und an der Küste eine Musterstadt süddeutscher Bauprägung mit „Gartenstadt“-Charakter angelegt. Man schaffte einen utopischen „Sehnsuchtsort“ gegen die doch schon sehr industrialisierte Heimat.
Die Einheimischen betraten diese als Bedienstete durch die Hintertür und bekamen, streng getrennt, ihre eigene Chinesenstadt, die „dunkel, schmutzig und überbevölkert“ war, wie man es diesem Volk nun einmal zuschrieb. Die chinesische Hochkultur, die von den gebildeten Deutschen bewundert wurde, lag lange zurück…
Natürlich gab es auch reiche Chinesen, mit denen man Kontakt suchte, und die Chinesenstadt mit ihren Operntheatern, Teehäusern, Bordellen und Opiumhöhlen waren für weiße „Grenzgänger“ natürlich anziehend. Grundsätzlich aber trennt man die Welten – im stolzen weißen Überlegenheitsgefühl…
Autorin Helga Rathjen zeichnet Baugeschichte, Hygieneprobleme (diese besonders ausführlich) und natürlich die Ideologie dieser „Kolonie“ nach, die im Ersten Weltkrieg verloren ging, als die Japaner kamen. Obwohl die Deutschen vor ihrem Abzug einen Großteil der Dokumente vernichtet haben, gab es immer noch Kopien in Deutschland selbst, und die gründliche Buchführung erlaubte es, allen Fragen nachzugehen. Leider hat das Buch sehr wenig Bildmaterial zu bieten – man hätte gerne gesehen, wie man in Deutschland mit großartigen Bildbroschüren die neue Kolonie „verkaufte“, die so teuer kam, dass man sie rechtfertigen musste…
Was die Ideologie betrifft, so haben sich die Deutschen nicht anders, nicht besser und sicher nicht schlechter verhalten als etwa die Briten in ihren Kolonien (an die Verbrechen der Belgier im Kongo will man gar nicht denken). Das Unternehmen dauerte nicht lange genug, um Deutschland für Wirtschaft und Prestige wirklich etwas einzubringen. Es war eine Art Traum, wie man ihn im kolonialen Zeitalter zu verwirklichen suchte.
Das China von heute hat das, was Tsingtao war, längst „eingeatmet“. Dennoch bekommt man beim Lokalaugenschein nicht nur im Museum eine Idee davon, was sich Deutschland einst an Kolonialpracht erträumte.
Renate Wagner