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Heinz Irrgeher: JOSEF „ANGELO“ NEUMANN

26.06.2020 | buch, CD/DVD/BUCH/Apps

Heinz Irrgeher:
JOSEF „ANGELO“ NEUMANN
Wagners vergessener Prophet
272 Seiten, Leipziger Universitätsverlag, 2020

Wer sich je intensiver mit der Biographie von Richard Wagner beschäftigt hat, kennt natürlich den Namen Angelo Neumann, der zu seiner Zeit etwas vollbrachte, was heute unvorstellbar ist: nämlich den „Ring des Nibelungen“ auf Tournee (!) zu schicken, womit er das Werk überhaupt erst europaweit bekannt gemacht hat. Theaterwissenschaftlern ist Angelo Neumann (1838 – 1910) überdies als langjähriger und verdienstvoller Direktor des „Deutschen Theaters“ in Prag und als einen der umtriebigsten Impresarii in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert ein Begriff. Ein Wirbelwind-Leben, das nun von Heinz Irrgeher nacherzählt wird.

Irrgeher, jedem Opernfreund im Zusammenhang mit den Freunden der Wiener Staatsoper bekannt. ist nicht nur Jurist, sondern auch Musikwissenschaftler und hat seine Diplomarbeit über Angelo Neumann nun als Buch herausgebracht. Wobei dieser „Josef“ Neumann (Geburtstag am 18. August, wie der um acht Jahre ältere Kaiser Franz Joseph) sich vermutlich selbst den Namen Angelo zugelegt hat, um sich wirkungsvoll von den Tausenden und Abertausenden „Josef Neumanns“ zu unterscheiden, wie Heinz Irrgeher vermutet. Es ist ihm jedenfalls gelungen.

Geboren in einem slowakischen Dorf, das damals zur Ungarischen Reichshälfte zählte, übersiedelte Neumanns jüdische Familie nach Wien, als er etwa 18 Jahre alt war. Den jüdischen Glauben hat er zweimal „eingewechselt“, zuerst für den Katholizismus, später für das Evangelische Bekenntnis. Der junge Mann setzte seinen Berufswunsch durch und wurde Sänger. Nach seinem Debut in Krakau kam er gleich an die Wiener Hofoper, wo er allerdings in Bariton-Nebenrollen zu versanden drohte, weshalb er sich neu orientierte.

Er war hier dem Werk Richard Wagners begegnet und durfte sich in der Folge, wie der Vorsitzende des Leipziger Richard-Wagner-Vereins, Helmut Loos, in einem der Nachworte schreibt, „zu dem illustren Kreis der zahlreichen jüdischen Freunden des Meisters zählen, die ihm bedingungslos ergeben waren.“ Neumann tat noch mehr, er hat Wagner nicht nur zu sehr viel Geld, sondern auch zu größtmöglicher Popularität verholfen.

Er tat es zuerst in Leipzig. August Förster vom Wiener Hofburgtheater, der als Schauspielchef nach Leipzig geholt wurde, brachte Neumann – angeblich haben sie die Zusammenarbeit stilecht im Café Griensteidl besiegelt – als Opernchef mit. Ausführlich widmet sich Irrgeher der Bedeutung der Musikstadt Leipzig auf allen Ebenen, einer Stadt, die nicht von einem Fürsten abhängig war, sondern sich mit Bürgerinitiativen Opern-, Konzerthäuser und Orchester geschaffen hatte, eine Stadt, die mit Bach, Mendelssohn-Bartholdy und Schumann untrennbar verbunden ist. Und nebenbei war Leipzig auch die Geburtsstadt Richard Wagners – aber er war so schnell entschwunden, dass die Leipziger ihn nicht so recht annahmen (das soll bis heute so sein, liest man).

Angelo Neumann schloß mit Wagner eine Bekanntschaft, die bis zu dessen Tod dauerte und meist von zähen Verhandlungen gekennzeichnet war. Doch es war eine Beziehung, die bei allem Ärger und Missverständnissen nie zerbrach und sich in zahlreichen Briefen manifestierte. Viele davon hat Neumann später in seinen Erinnerungen an Wagner veröffentlicht, die Originale erwiesen sich nach seinem Tod (angeblich noch zu Lebzeiten einem Sohn übergeben) als unauffindbar…

Neumann wollte in Leipzig als Erster nach Bayreuth den gesamten „Ring des Nibelungen“ zur Aufführung bringen, obwohl Kollege Förster aus Bayreuth zurück gekehrt war und das Werk für „unaufführbar“ erklärt hatte. Glücklicherweise teilte Neumann diese Meinung nicht, und tatsächlich schaffte er die Aufführungen in Leipzig in zwei Tranchen, die beiden ersten Werke im April 1878, die beiden letzten im September desselben Jahres. Franz Liszt konzedierte ihm den Riesenerfolg in einem Bericht an Wagner, wo er schrieb: „Neumann hat seine Sache teilweise sogar besser gemacht als du in Bayreuth.“ Wenn das kein Kompliment ist…

In den folgenden Jahren verschaffte Neumann der Leipziger Oper eine ihrer Glanzepochen, wobei er das gesamte Repertoire der damaligen Zeit bediente (und der Leser merkt, von wie vielen Komponisten man nur noch die Namen, nicht aber mehr die Werke kennt). Als Neumann Leipzig verließ, widmete er sich (mit Zwischenstationen wie Berlin und London) in der Folge dem größten Unternehmen nicht nur seines Lebens, sondern einer der größten logistischen Herausforderungen überhaupt, dem so genannten  „Wagner’schen Wandertheater“.

Es ist wohl der faszinierendste Teil des Buches, wenn man nachliest, wie diese „Tournee“ mit dem „Ring“ und Wagner-Konzerten in den Jahren 1882 / 83 vor sich ging. Sonderzüge mit zwölf Waggons, dafür fünf für Dekorationen, transportierten die 134 beteiligten Menschen (Künstler und Techniker), wobei man jede Dekoration nachts abbaute und gleich an den nächsten Ort weiterschickte, denn oft fuhr man ohne Ruhetag von einer Aufführungsstätte zur nächsten. In Breslau begann es im September 1882, dann bewegte sich der „Wagner-Zug“ weiter: Posen, Königsberg, Danzig, Hannover, Hamburg, Magdeburg, Lübeck, Bremen, Barmen (die Vorgängerstadt von Wuppertal), Köln, Frankfurt, Leipzig, Berlin, Dresden, Halle, Kassel, Detmold, Krefeld, Amsterdam, Arnheim, Zwolle, Utrecht, Haag, Rotterdam, Leiden, Brüssel, Gent, Antwerpen, Karlsruhe, Darmstadt, Münster, Mannheim, Heidelberg, Baden-Baden, Freiburg, Aachen, Düsseldorf, Wiesbaden, Mainz, Straßburg, Basel, Zürich, Stuttgart, München, Venedig, Bologna, Florenz, Rom, Turin, Mailand, Triest, Budapest, Graz. Allein die Planung eines solchen Unternehmens scheint kaum vorstellbar… Neumann war ein Organisator ohnegleichen.

Am Ende hatte Neumann mit Wagners „Ring“ 350.000 Menschen in ganz Europa erreicht und nicht nur ein Wagner-Fieber und eine „Ring“-Mode entzündet (es war ganz einfach ein „Event“, bei dem jeder Opernfreund dabei sein musste), sondern auch Musikfreunden ermöglicht, das Werk auf der Bühne zu erleben. Dass Rezeption und Akzeptanz enorm stiegen, war klar. Angelo Neumann hat damit nicht nur Wagner-Geschichte, sondern auch Theatergeschichte geschrieben.

Nach einer offenbar weniger gelungenen Zeit in Bremen fand Angelo Neumann bis zu seinem Tod eine ideale Wirkungsstätte im Deutschen Theater in Prag. Dazu muss gesagt werden, dass er in die schweren Nationalitäten-Spannungen zwischen Deutschen und Tschechen geriet, und dass er, der Jude, es war, der das „Deutsche Theater“ zu einem Brennpunkt der deutschen Kultur machte. Noch einmal konnte er seine künstlerischen und kaufmännischen Fähigkeiten sowie seine Führungsqualitäten voll einsetzen, wenn er auch – wie es hieß – kein so guter Regisseur gewesen sein soll, wie er selbst glaubte… Aber er kümmerte sich einfach unermüdlich um alles.

Natürlich rieb ein solches Leben auf, am Theater sind Querelen mit allen und jedem an der Tagesordnung, und Neumann machte sich die Lage nicht leichter, als er die Schauspielerin Johanna Buska heiratete, von der jeder wusste, dass sie die Geliebte von Kronprinz Rudolf gewesen war, von dem sie einen Sohn hatte. Auch als sie im Lauf der Jahre an Jugend und Schönheit einbüßte, bestand sie als „Frau Direktor“ auf jene Rollen, die nicht mehr zu ihr passten, was zur Unruhe im Theater beitrug. Neumann, am Ende auch durch Operationen geschwächt, starb 1910. Sein Grab hat man erst 2010, zum hundertsten Wiederkehr seines Todestages, auf dem deutsch-evangelischen Friedhof in Prag wieder gefunden.

Falls seine Erinnerung getilgt war, Heinz Irrgeher hat ihm in dieser Biographie seinen Rang zurück gegeben. Einzige Einwände beziehen sich auf den Apparat des Buches. Eine Zeittafel hilft dem Leser immer und fehlt, weil sich in diesem Leben so vieles ereignet hat, und ohne Personenregister wirken Sachbücher unvollständig. Aber auch ohne diese Hilfsmittel ist die Geschichte von Angelo Neumann für Musik-. Theater- und Wagner-Freunde eine prächtige Lektüre.

Renate Wagner

 

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