Heinrich Kraus:
ES HAT VIEL PLATZ IN 90 JAHREN
LEBENSERINNERUNGEN EINES THEATERMANNES
Aufgezeichnet von Barbara Lipp
Mit einem Geleitwort von Otto Schenk
Serie: Bilder aus einem Theaterleben, Band 8
336 Seiten, Verlag Lehner, 2017
Wenn man es genau nimmt, ist der 90er auch schon vorbei, denn Heinrich Kraus wurde 1923 geboren. Und noch immer steht der großartige alte Herr aufrecht als Präsident an der Spitze der Raimund-Gesellschaft und der Nestroy-Gesellschaft und ist keineswegs nur ein repräsentatives Aushängeschild: Wer wie er lebenslang in „Theaterg’schichten“ (um es mit Nestroy zu formulieren) so aktiv war wie er, der zieht sich nicht aufs Altenteil zurück. Jetzt hat er seine Erinnerungen niedergeschrieben – und er hat wahrlich etwas zu erzählen.
Heinrich Kraus hat sein Leben als „Kulturmanager“ verbracht, ohne diese Tätigkeit – wie heute – großartig auf der Universität oder bei Workshops gelernt zu haben: Er war immer mitten drin. Kultur umgab ihn seit seiner Geburt, der Großvater. Hofrat Alois Kraus, im Dienst des Kaisers noch als Direktor des Tiergarten Schönbrunn, der Vater als hoher Beamter der Gemeinde Wien und Leiter des Kulturamts. Schon im Akademischen Gymnasium flochten junge Männer Seilschaften fürs Leben, im Sommer in Strobl verkehrte man mit der Familie Fürstenberg, wo auch Karl Schwarzenberg nach der Flucht seiner Familie ankam…
Im Krieg verfing für Heinrich Kraus sein Lebensspruch „Wem das Schicksal gnädig ist“ – als Wehrmachtsangehöriger konnte er in Wien bleiben, bei Bombenangriffen hockte er nicht so gern im Luftschutzraum im Rathaus, wo der Vater tätig war, sondern ging weiter bis in den Keller des Burgtheaters, wo er bereits alle großen Schauspieler seiner Zeit kennen lernte. Erschütternd die Schilderung wie der kaum über 20jährige durch das zerstörte Wien irrte – Staatsoper, Burgtheater ausgebombt, aber Künstler, die mit ungeheurem Elan entschlossen waren, alles wieder aufzubauen.
Und Heinrich Kraus war von Anfang an dabei, in dieser Zeit des vibrierenden Optimismus hatte der junge Mann (der dann nebenbei auch sein Studium der Theaterwissenschaft abschloß) etwas beizutragen – früh war er im Burgtheater mit künstlerisch-organisatorischen Fragen betraut, und das zog sich durch sein Leben: Kraus wurde als hoch geschätzter Organisator in immer neue Funktionen berufen und hat mit vielen Künstlern seiner Zeit lebenslange Freundschaften geschlossen.
Heinerich Kraus war an der Seite von Helene Thimig jahrelang in der Direktion des Reinhardt-Seminars tätig, der aus der Emigration als mächtiger Mann zurückgekehrte Ernst Hauesserman (dessen Vater, der noch Häussermann hieß, Kraus gut kannte) holte ihn in die Kulturabteilung der amerikanischen Botschaft, und Hauesserman wollte Kraus später sowohl im Burgtheater wie in der Josefstadt immer an seiner Seite haben.
Als man Heinrich Kraus die Intendanz der Philharmonia Hungarica anbot, des Orchesters, das sich aus ungarischen Flüchtlingen zusammen setzte, begab er sich nicht nur mühelos auf das Feld der musikalischen Organisation, er fand auch seine Gattin: Bis zu ihrem Tod im März 2012 war er ein halbes Jahrhundert mit der schwedischen Mezzosopranistin Margareta Sjöstedt, Ensemblemitglied der Wiener Staatsoper, verheiratet. Zu seinem enormen Bekanntenkreis kamen nun Dirigenten, Sänger, Musikproduzenten. Und Hermann Juch überredete ihn bei einem Plauderstündchen im Café Eiles dazu, als Chefdisponent an die Deutschen Oper am Rhein zu kommen. Vielleicht wäre er länger als drei Jahre in Düsseldorf geblieben, hätte Ernst Hauesserman nicht darauf bestanden, ihn nach Wien ans Burgtheater zu holen – nun als Verwaltungsdirektor, am Ende war er Vizedirektor.
In aller Ausführlichkeit schildert Heinrich Kraus die ungeheuerliche Arbeit, die dahinter steckte, zwischen 1966 und 1968 die Welttournee des Burgtheaters (Griechenland, Polen, Russland, Frankreich, Bundesrepublik Deutschland, Israel, USA, Kanada, Japan, Honkong, Thailand, Luxemburg, Belgien, Holland) zu organisieren. Es war ein Triumph, und alle großen Schauspieler der Zeit marschieren durch die Buchseiten und am Leser vorbei…
Kraus blieb auch noch nach der Ära Ernst Hauesserman kurz am Burgtheater, doch dieser war an die Josefstadt gewechselt und fühlte sich offenbar in Direktionsetagen nur wohl, wenn er Heinrich Kraus im Rücken hatte. So ging dieser an die Josefstadt – und griff gleich mit vielen Verbesserungen und Sanierungen des Hauses durch. Nach dem Tod Hauessermans im Jahre 1984 „rettete“ er das Unternehmen, indem er als Direktor zur Verfügung stand, bis man sich für einen Nachfolger entschlossen hatte.
Kraus erzählt, wie sicher er war, das Haus an den von ihm hoch geschätzten Michael Kehlmann zu übergeben – aber das Duo Zilk / Pasterk hatte Boy Gobert gewählt, dessen Forderungen das Haus vor die größten Schwierigkeiten stellte. Es ist bekannt, wie es weiterging – Gobert starb völlig überraschend im Mai 1986, Kraus half weiter aus bis Ende 1987, dann kam Otto Schenk mit Robert Jungbluth im Schlepptau.
Heinrich Kraus blieb der Josefstadt – wenn auch nicht mehr in der Direktionsebene – weiter verbunden, seine Loyalität lobt Herbert Föttinger in höchsten Tönen, lobt auch die Renovierung der Kammerspiele, Dinge, wo ihm nicht jeder zustimmen wird.
Seltsam, dass die Raimund-Gesellschaft, die Nestroy-Gesellschaft, für die Kraus so viel getan hat, erst ganz am Ende des Buches ihre Würdigung erfahren. Kraus selbst wurde in seiner Sommerresidenz Strobl mit einem „Prof. Kraus-Weg“ geehrt. All seine Ehrenzeichen aufzuzählen, dazu ist der große Mann viel zu nobel: Sein Leben ist seine Ehrung.
Dieses Buch wird über den Inhalt hinaus noch ganz besonders kostbar, weil Heinrich Kraus sein Fotoalbum geöffnet hat, und mit über 300 Abbildungen (von denen man manche nur einfach zu klein findet!!! Vor allem Textliches möchte man genauer sehen!) ist das eine Fundgrube nicht nur an Personen, sondern auch an Ereignissen. Tatsächlich – hier ersteht über Jahrzehnte hindurch eine ganze Kulturwelt. Und viele der nicht mehr ganz jungen Leser werden hier in reichem Maße ihre eigenen Erinnerungen wiederfinden.
Renate Wagner