Susanne Serfling (Leonore), Markus Francke (Florestan). Foto: Jochen Klenk
Premiere: Ludwig van Beethovens „Fidelio“ mit dem Theater Ulm am 5.11.2019 im Theater/HEILBRONN
Apotheose der Befreiung
In der Inszenierung von Dietrich W. Hilsdorf wird diese einzige Oper Beethovens zu einem spannungsvollen Krimi. Hilsdorf hat die Dialoge in seiner Fassung gestrichen, dadurch wirkt die Aufführung sehr kompakt und konzentriert. Aber auch das Satirische und Lustspielhafte soll betont werden. Hinter der betulichen Fassade des Biedermeier werden so die bedrohlichen gesellschaftlichen Risse sichtbar. Die Protagonisten sind plötzlich der politischen Gewalt ausgeliefert.
Im durchaus historisch passenden Bühnenbild von Dieter Richter und der Kostümbildnerin Bettina Munzer wirkt das Finale aber naturalistisch. Leonore sinkt leblos zu Boden, die Menge scheint wie erstarrt zu sein. Florestan erscheint in Frauenkleidern als Pendant zur als Mann verkleideten Leonore, der Minister kommt mit der Schild-Aufschrift „Ich bin ein Minister“ als skurriler Prototyp des Metternich-Absolutismus daher. Das bürgerliche Heldenleben wird so ad absurdum geführt und trotz der eigentlich harmlosen Ausstattung gnadenlos bloßgestellt. Hilsdorf hat eine raffinierte und interessante Mischfassung dieses Werkes erstellt.
Die Ulmer Fassung für das Jubiläumsjahr 2019 basiert weitgehend auf der letzten Fassung von 1814. Dies zeigt sich vor allem angesichts des erhöhten Spieltempos. Bemerkenswert ist dabei, dass der Beginn des Werkes verändert wird. Nach der heute als „Leonore II“ betitelten Ouvertüre beginnt Marzelline mit ihrer Arie „O wär ich schon mit dir vereint“ – und mit Jaquino zusammen entspinnt sich das Duett „Jetzt, Schätzchen, jetzt sind wir allein“. Auf der Bühne wehen Fahnen mit der Aufschrift „Freiheit“. Und der gewaltige Freiheitsdrang beherrscht diese Inszenierung von Anfang an – vor allem dann, wenn die Gefangenen ihr Verlies verlassen und die Bühne betreten. Da herrscht ein wahrhaft revolutionärer Geist. Leonore wird hier zur Befreierin der Unterdrückten, denn ihr Mann Florestan sitzt unschuldig im Staatsgefängnis von Sevilla. Der Gefängnisgouverneur Don Pizarro fürchtet ihn, denn Florestan weiß um dessen skandalöse Machenschaften. Leonore verkleidet sich als Mann, nennt sich Fidelio und bekommt Arbeit beim Gefängniswärter Rocco.
Ensemble/ Schluss-Szene. Foto: Jochen Klenk
Dies alles inszeniert Dietrich W. Hilsdorf szenisch sehr knapp und realistisch. Dass sich Marzelline dann in den Angestellten ihres Vaters verliebt, könnte sogar noch plastischer unterstrichen werden. Leonore muss dieses schwierige Täuschungsmanöver aufrechterhalten, um als zukünftiger „Bräutigam“ von Marzelline die politischen Gefangenen letztendlich zu retten. Und als Pizarro seinen Gefangenen töten will, stellt sich „Fidelio“ energisch dazwischen. Diese turbulenten Szenen mit Scharfschützen und großem Mengenaufgebot besitzen eine atemlose Rasanz, die sich auf das Publikum überträgt. Pizarro wird zuletzt von Leonore alias Fidelio niedergestreckt. Die bewegende Apotheose der Befreiung kann sich fortsetzen. Unter der inspirierenden Leitung von Levente Török musiziert das Philharmonische Orchester der Stadt Ulm mit viel Energie und ansprechendem Esprit, der sich auch auf die Sänger überträgt. Noch mehr wildes Feuer würde hier der Ouvertüre mit dem Trompetensignal und den verhaltenen Nachsätzen gut tun. Seelische Prozesse und das innere Empfinden dieser Menschen vermag der umsichtige Regisseur Dietrich W. Hilsdorf überzeugend zu bündeln. Hervorragend betonen Opernchor und Extrachor des Theaters Ulm die Freude des das Sonnenlicht begrüßenden Gefangenenchors – und der emotional überwältigende Gefühlsausbruch im Jubelduett der Wiedervereinigten könnte dann kaum größer sein. Hier steigert sich auch die musikalische Qualität dieser Aufführung wie in einem riesigen Crescendo-Bogen voller Glut und Leidenschaft. Der Stretta-Charakter des Schlusses erhält eine starke Akzentuierung. Als strahlkräftige Leonore überzeugt Susanne Serfling am meisten, die ihre Kantilenen und Kaskaden bei den akustischen Höhepunkten mitreissend hervorschleudert. Aber auch David Pichlmaier als „Minister“ Don Fernando, Guido Jentjens als dämonischer Rocco und Maryna Zubko als einfühlsame Marzelline tragen mit erstaunlicher klangfarblicher Vielschichtigkeit zum Gelingen des harmonischen Geschehens bei. Eine unheimliche Aura besitzt auch Dae-Hee Shin als Don Pizarro, der mit profundem Bariton aufwartet. Neben der betont schlanken und mit großem Volumen aufwartenden Susanne Serfling als Leonore vermag außerdem Markus Francke als Florestan zu fesseln, der mit einem beweglichen Tenor agiert. Zuweilen wirkt die Stimme in den extremen Höhenlagen etwas dünn, was jedoch aufgrund des tragfähigen Timbres in der Mittellage aufgefangen wird. In weiteren Rollen gefallen noch Takao Aoyagi als erster und Michael Burow-Geier als zweiter Gefangener. Auch den marschartigen Rhythmus stellt der Dirigent Levente Török minuziös heraus. Zuletzt steigert sich das Geschehen in atemberaubender Weise auf den Höhepunkt hin. Pizarro erscheint, schickt Leonore weg, die sich aber nur in den Hintergrund zurückzieht. Mit dem Oboensolo spürt Florestan die Nähe der Geliebten. Das wird gut herausgearbeitet. Und die A-Dur-Stelle bei Fernandos Worten „Steht auf, steht auf“ besitzt eine ergreifende Intensität. Die Gefangenen atmen so in unvergleichlicher Weise den Geist der Freiheit. Beim freundschaftlichen Erkennen Don Fernandos durch Florestan geht die Musik vom Ausdruck wilder Leidenschaften in den des Trostes über. In mächtigen Steigerungen imponiert das Duett von Florestan und Leonore „O namenlose Freude“, wo Markus Francke als Florestan und Susanne Serfling als Leonore gesanglich am meisten überzeugen. Zeit und Raum scheinen auf einmal zu verschwinden. Viel Zustimmung im Publikum, auch wenn Florestan im Frauenkostüm etwas befremdlich wirkt.
Alexander Walther