Giuseppe Verdi: Nabucco, Staatsoper Hamburg, 13.03.2019 (2. Vorstellung seit der Premiere am 10.03.2019)
Viel heisse Luft um nichts
Die alte Mär vom Gefangenenchor als politisches Manifest
Um die „alte Geschichte“ dem Zuschauer verständlich zu machen, das Publikum wird einmal mehr zu Unrecht unterschätzt, verlegt Regisseur Kyrill Serebrennikov (Inszenierung, Bühnenbild und Kostüme) sie in die Gegenwart. Um diese „Verständlichkeit“ und das Konzept der Inszenierung an sich nicht zu gefährden, wird unbeirrt der tradierten Mär gefolgt, Verdi habe den Gefangenenchor als politische Hymne komponiert.
Die Ignoranz der Erkenntnis, dass der Gefangenenchor erst vierzig Jahre nach der Uraufführung des Nabucco mit einer politischen Bedeutung versehen wurde, wirkt umso unverständlicher und erstaunlicher, als Anselm Gerhard, Professor für historische Musikwissenschaft an der Universität Bern, im Programmheft (Sergio Morabito, Janina Zell) in einem hervorragenden Aufsatz dem Mythos nachgeht, der Gefangenchor sei ein politisches Manifest.
Die Umdeutung des Gefangenenchors stammt aus den 1880er-Jahren. Dafür massgebend sind die italienischen Ausgabe von Arthur Pougins «Vita aneddotica di Verdi», mit der von Verdi gebilligten Legende, wie auch nationalistische Bestrebungen nach dem Tode des ersten italienischen Königs die Einheit des Landes zu stärken. Schon zu Beginn der italienischen Einigung erkannte der piemontesische Politiker Massimo d‘Azeglio: „Wir haben Italien geschaffen, jetzt müssen wir Italiener schaffen.“ Zu diesem Zweck erfolgte die politische Deutung des Gefangenenchors.
Erschwerte Bedingungen der Inszenierung
Selten steht eine Opern-Premiere so im Licht der Öffentlichkeit, wie die Hamburger Neu-Inszenierung des «Nabucco» von Kyrill Serebrennikov. Dies, weil Serebrennikov nach seinem Engagement in seiner Heimat unter Hausarrest gestellt wurde, er seine Inszenierung so nicht vor Ort entwickeln und betreuen konnte, und weil er in seiner Inszenierung höchst politisch tagesaktuelle Themen anspricht. Die Premiere hat szenisch unter erschwerten Bedingungen stattgefunden: Co-Regisseur Evgeny Kulagin setzte vor Ort die Inszenierung um und hielt über den Anwalt die Kommunikation mit Serebrennikov aufrecht.
Konzept: gut
Serebrennikov lässt seinen Nabucco im Sitzungssaal der Vereinten Nationen in New York spielen. Eine Sitzung steht bevor, aber bevor es losgehen kann, muss der Saal noch auf Sprengstoff untersucht werden und die Putz-Mannschaft ihres Amtes walten. Dann werden die Sitzungsunterlagen verteilt und die Deputierten können einziehen.
© Brinkhoff/Mögenburg
Im Saal gibt es eine grosse Video-Leinwand und auf der rechten Seite, unterhalb der Dolmetscher-Kabinen, wird auf einem Textlaufband die Traktandenliste angezeigt. Also Erstes ist zu lesen «Gobal Warming is one of the biggest challenges of the upcoming years», Hauptthema ist aber die weltweite Flüchtlingskrise. Im Verlauf des ersten Teils der Sitzung werden die Steckbriefe der Handelnden eingeblendet: Nabucco Donoso ist der Führer Syriens. Er erfüllt den Willen des assyrischen Volkes (Assyria first) und führt sein Land, das auf der ganzen Welt eingestanden wie uneingestanden seine Truppen in territorialer Auseinandersetzung dritter Staaten im Felde stehen hat, seit einem historischen Wahlsieg als autokratisches Einparteien-System. Sein Gegenspieler ist Zaccaria Badavi, der glaubt mit Multilateralismus und Integration zum Ziel zu kommen. Auseinandersetzungen politischer Natur sind also vorprogrammiert und in der ersten Sitzungspause, als Fenena Donoso und Ismaele Sedecia, die allein geblieben sind, von Abigaille überrascht werden, kommen auch die privaten Auseinandersetzungen hinzu. Abigaille kämpft vergeblich darum, dass Ismaele ihre Liebe erwidert. Fenena und Ismael fliegen auf, Nabucco setzt sein Werk der Zerstörung fort und lässt alle geflüchteten inhaftieren. Nabucco, der in den Krieg gezogen ist, hat seine Lieblingstochter Fenena als Regentin eingesetzt. Sie, die nicht deckungsgleich mit ihrem Vater agiert, beginnt die Flüchtlinge wieder freizulassen. Abigaille, politisch ganz auf der Linie des Vaters, übernimmt mit der Hilfe des Oberpriesters des Baal die Macht. Als der für tot gehaltene Nabucco auftaucht und von seiner Lieblingstochter Fenena erfahren muss, dass sich diese seinen Gegnern angeschlossen hat, erleidet er einen Schlaganfall. Nachdem Abigaille in ihr neues Amt eingeführt wurde, lässt sie als erstes von Nabucco ein Dokument unterzeichnen, dass die Vernichtung aller Internierten bestimmt. Die internierten Flüchtlinge sehnen sich nach ihrer Heimat. Nabucco halluziniert im Fieberwahn und erbittet vom Gott Zaccarias Vergebung. Nach einem Besuch von Fenena und Ismaele erhebt er sich wie verwandelt vom Krankenbett und lässt die Internierten frei. Abigaille, die sich vergiftete hat, fleht um Vergebung.
Soweit die Handlung nach Serebrennikows Konzept. Immer wieder überblendet der Regisseur die Bühne mit Fotografien des Russen Sergey Ponomarev um den Flüchtlingen, um der Migrationsproblematik ein menschliches Antlitz zu geben. In den Umbaupausen, hier Intermedien genannt, wird syrische Musik gespielt (Hana Aikourbah, Gesang, und Abed Harsany, Gesang und Oud). Den Gefangenchor singt der Chor der Staatsoper Hamburg und überlässt während dem Singen einer Gruppe «echter» Flüchtlinge die Rampe. Ein „Projektchor“ wiederholt den Gefangenenchor dann kurz vor Ende der Vorstellung.
© Brinkhoff/Mögenburg
Umsetzung: ungenügend
Die Aktualisierung der Oper scheint gelungen, auch wenn diverse Probleme bleiben. Es lässt sich zum Beispiel nicht erklären, wieso Nabucco das Dokument zur Vernichtung der Internierten unterschreiben muss, wo doch nun Abigaille das Amt als Staatsoberhaupt übernommen hat. Die spitzwinklige Anordnung der Bühnenaufbauten (Videowand und Dolmetscherkabinen) bringt es mit sich, das man auch von vielen der teuersten Plätze aus die schriftlichen Einblendungen nicht sehen und lesen kann. Ist die Mehrheit der Besucher sprachlich so fit, dass sie sich die grenzwertige Masse der Einblendungen (parallel zu den Übertiteln) aus dem Englischen übersetzen und verstehen kann?
Warum hat man sich nicht die Mühe gemacht, die Übertitel vernünftig anzupassen?
Die Intermedien sind in ihrer Masse zeitlich zu lang und in ihrer Isolation von der Oper wirken sie wie Pausenfüller. Die Intermedien seitens des Publikums erfordern mehr Vorbereitung, als unter diesen Umständen zu leisten ist. Der Projektchor klingt dermassen schief, dass hier kein Bemühen zu entdecken ist und die Beteiligten wie vorgeführt auf der Bühne stehen.
Serebrennikows Wunsch die Bühne für jene Menschen zu öffnen und freizugeben, deren Leid wir allzu oft nur aus medial vermittelter Distanz wahrnehmen, und unser kulturelles Erbe mit ihnen zu teilen, wird nicht wirklich erreicht. Der Projektchor lässt keine Bereitschaft zu teilen erkennen. Umgekehrt wird der Zuschauer mit den Intermedien vor vermeidbare Probleme gestellt: sie könnten letztlich ohne Verlust für die Inszenierung gestrichen werden. Ponomarevs Fotografien bleiben in ihrer schieren Masse losgelöst von der „alten Geschichte“.
Viva Verdi!
Aus musikalischer Sicht ist der Abend absolut gelungen. Paolo Carignani dirigiert einen mustergültigen Nabucco und das grandios aufspielende Philharmonisches Staatsorchester Hamburg lässt selten gehörte Details der Partitur vernehmen, ohne dass das Spiel je blutlos oder buchstabiert wirken würde.
Zum hervorragenden musikalischen Eindruck tragen auch die Solisten und der Chor der Hamburgischen Staatsoper (einstudiert von Eberhard Friedrich) bei. Dimitri Platanias sang einen traumhaften Nabucco mit wunderbarer Technik, langem Atem und grosser Bühnenpräsenz. Sein Gegenspieler Zaccaria war Alexander Vinogradov mit kräftigem Bass und grosser Musikalität. Géraldine Chauvet war Nabuccos Tochter Fenena: sie blieb unter den grossen Stimmen etwas blass. Dovlet Nurgeldiyev als Ismaele und Alin Anca als Oberpriester des Baal zeigten, dass hier ein Besetzungsbüro involviert war, das auch die Besetzung der kleineren Rollen ernst genommen hat. Oksana Dyka gab die schwierige Partie der Abigaille und konnte auf ganzer Linie reüssieren.
Fazit
Musikalisch ein Abend, wie man sich ihn wünscht. Bravissimi!
Szenisch war der Abend weniger ergiebig. Es handelt sich hier um simples Regietheater, das der Regie ein eigenkünstlerisches Gewicht verleiht, das sie nicht verdient. Es geht hier um Kyrill Serebrennikov und nicht um das Leid der Flüchtlinge. Serebrennikovs Schicksal soll keinesfalls abgewertet werden. Aber der Abend hat ein anderes Thema, als er vorgibt, und so wird die Betroffenheit am Schicksal der Flüchtlinge zu blanker Heuchelei.
Weitere Aufführungen:
2018/2019: 20.03.2019, 23.03.2019, 02.04.2019, 05.04.2019
2019/2020: 19.09.2019, 22.09.2019, 27.09.2019, 02.10.2019, 05.10.2019
17.03.2019, Jan Krobot/Zürich