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HAMBURG: FÜRST IGOR – packendes Musiktheater – Premiere

17.09.2012 | KRITIKEN, Oper

Hamburg: „FÜRST IGOR“ – Pr.15.9.2012 – Packendes Musiktheater!


Fürst Galitzky (Rafal Siwek) und seine Saufkumpanen beim Tanz um das geschändete Mädchen (c: Forster)

Das war eine echte Leistungsschau der Hamburgischen Staatsoper – Inszenierung, Musik und – eine neue, komplettierte Fassung der Borodin-Oper, die das Stück auf 4 Stunden (mit 2 Pausen) erweitert – da wurde das Russland des 12. Jhs. zum Leben erweckt, und ohne krampfhafte Modernisierung verstand man, dass die Brutalitäten kriegführender Völker so historisch wie heutig sind, aber auch Liebe, Treue und Freundeshilfe damals wie heute existier(t)en.

Was Alexander Borodins 1890 (posthum) in St. Petersburg uraufgeführte historisch-patriotische Oper so besonders aktuell macht, sind die sogenannten Glaubenskriege zwischen den christlichen Russen und den heidnischen Polowzern, wo es natürlich nur um Macht und wieder um Macht geht. Ganz in romantischer Tradition des 19. Jhs. ist nicht nur die Musik, sondern auch die Angst vor „des Ostens Horden“, die ja auch Richard Wagner anspricht. Anders als in „Lohengrin“ wird hier jedoch recht vielschichtig ein Panoptikum an Figuren aus beiden Lagern gezeigt, wo sich primitives Geltungsbedürfnis mit Opportunismus, Flucht ganzer Heere und Stadtbewohner in den Suff, Erniedrigung der Frauen und deren Standfestigkeit, real existente Gefühle und deren symbolische Überhöhung mischen.


Wie das Volk sich einen siegreichen Fürsten vorstellt! Im Vordergrund die Schulmädchen und die beiden Mitläufer Skula (Moritz Gogg) und Eroschka (Markus

Petsch) (c: Forster)

Regisseur David Pountney und sein Bühnenbildner Robert Innes Hopkins haben inmitten einer von zerbröckelndem Gemäuer und Stacheldraht umgebenen Szene handfestes Theater geboten und mit starker Bildkraft das Verlangen des Volkes nach Führungskräften mit übernatürlichen Fähigkeiten verständlich gemacht. Fürst Igor mit goldener Krone auf seinem goldenen Pferd in den Krieg reitend, nach überlieferter Darstellung auf einem Sockel als blendende Erscheinung, bekommen wir in der ersten und letzten Szene zu sehen. Darunter sitzt in bescheidenem grauen Militärgewand der wahre Igor an seinem Schreibtisch und liegt nach seiner Heimkehr aus dem Feindesland mit seiner treuen Gattin eng umschlungen ebenda. Er bleibt also ein Repräsentant im Dienst anderer, wird uns aber auch als ganz normaler, denkender, fühlender, verzweifelter oder zweifelnder Mensch vor Augen geführt. Seine treue Jaroslawna singt ihre Klagegesänge in einem vom Bühnenpersonal eigens hereingeschobenen mitelalterlichen Wohnturm in historischem Kostüm, umgeben von Inventar jener Zeit. Sie darf ihren fürstlichen Kopfputz jedoch abnehmen, wenn sie mit dem von den Soldaten geschändeten Mädchen oder deren Freundinnen spricht. Die Typen aus dem Volk, Skula und Eroschka, die sich immer nach dem Winde drehen und jeweils dem zujubeln, von dem sie sich die meisten Vorteile erwarten, und ungeniert kehrt machen, wenn der nach der brutalen Interimsherrschaft von Jaroslawnas Bruder Galitzky plötzlich Fürst Igor wieder auftaucht, sind pralle, lebensechte Prasserfiguren, die zugleich für Erheiterung und Grauen sorgen. Als ganz großartige Idee empfand ich die Einbeziehung der Polowezer Tänze (richtig: Polwówska Tänze, wie uns in der Werkeinführung erklärt wurde) in die Handlung: die russischen Gefangenen und Sklaven mussten zum Vergnügen der Soldaten tanzen – wie es die Musik vorgibt, wilde, verzweifelte Tänze, bei denen die Frauen umhergestoßen und zu Boden geschleudert werden, zugleich sich aber wieder gegen diesen Zwang auflehnen und damit abreagieren, und auch die Männer ihren aufgestauten Hass in entwürdigender Weise los werden müssen. Die Choreographie von Renato Zanella mit TänzerInnen des Bundesjugendballetts und SchülerInnen der Neumeier-Ballettschule war voll aufwühlender Energie und fesselnder Prägnanz.

Die Hamburger Oper darf stolz auf eine effiziente Neubearbeitung des Werkes verweisen. Borodin hatte ja nur einen Teil der Oper fertig instrumentiert und seine Kollegen aus dem „Mächtigen Häuflein“ (wir erinnern an unseren Leitartikel im „Merker“ 10/2008), Nikolai Rimski-Korsakow und dessen Schüler Alexander Glasunow, hatten die Partitur anhand von Skizzen ergänzt. Für diese Hamburger Produktion überarbeiteten David Lloyd-Jones und Dmitri Smirnov die Partitur durch bisher kaum veröffentlichtes Material. Die Spielfassung erstellten Simone Young und der Regisseur – natürlich in russischer Sprache. Was das alein für den Chordirektor Christian Günther an Arbeit bedeutet, kann man sich denken. Dem Publikum halfen die gut lesbaren deutschen Übertitel. Der Aufwand hat sich gelohnt.


Fürst Igor (Andrzej Dobber) in Gefagenschaft mit seinem Sohn Wladimir (Dovlet Nurgeldiyev), der sich von der Polowezerin Kontschakowna (Cristina Damian) umgarnen lässt (c: Forster)

Ich hatte diese Oper seit der deutsch gesungenen Wiener Aufführung von 1960 (Matačić; Waechter, Zadek, G. Zampieri, Hotter, Frick, Malaniuk) nicht mehr gesehen und war glücklich, ihr nun in Originalsprache zu begegnen. Auch im Hamburg hatte ja die erste und bislang einzige Produktion 1938 stattgefunden.

 Das 68-köpfige Orchester, „Hamburger Philharmonie“, spielte unter Leitung seiner Chefin Simone Young imposante große romantische Oper voller Wohlklang, Elegik, isntrumentaler Expression, drastischer Massenszenen und zupackender Rhythmen in den Tänzen. Mit elementarer Kraft bezwangen die großen Männerchöre, es erfreuten aber auch in kleineren Formationen die Mädchen und Frauen mit fein ziseliertem, ausdrucksstarkem Gsang.

 Dass die Gruppen neutrale Kleidung der Jetztzeit trugen, störte überhaupt nicht. Für die Solisten hatte sich Kostümbildnerin Marie-Jeanne Lecca so manches echt Russische (Hauben aus Tierfell, imposante lange Mäntel) einfallen lassen, sodas mit Hilfe charakteristischer Perücken und Masken authentische Figuren auf der Bühne standen. Ja, eigentlich besser: agierten. Denn David Pountney ließ die Sänger voll ausspielen. Vor allem die „wilden“ Charaktere gewannen dadurch mächtig an oft erschreckender Präsenz.

 Der aus Polen gebürtige Andrzej Dobber, den ich bisher nur als Verdi-Bariton kannte, war in der Titelrolle ideal eingesetzt. Da der Borodin’sche Fürst Igor ja eine positive Figur ist und als solche im Drama gern von den teuflischen Existenzen um ihn herum in den Hintergrund gedrängt wird, ist eine noble Stimme vonnöten. Die hatte der Sänger einzusetzen, doch darüber hinaus gewaltige Kraft und den verlangten Verweiflungston im ohnmächtigen Aufbegehren und den Selbstzweifeln des Gefangenen. Die schlichten Liebesszenen mit seiner Jaroslawna berührten. Der Hamburg-Debutantin Veronica Dzhioeva gelang es, mit ihrem großen, in allen Lagen sattelfesten lyrischen Sopran die Dulderin, Liebende und mit Energie sich für die gute Sache einsetzende, imponierende Fürstin fesselnd darzustellen. Als Wladimir, Igors Sohn aus erster Ehe, der mit dem Vater in den Krieg zieht, von der Polowezerin Kontschakowna (sehr schöne junge Stimme: Cristina Damian) in durchaus politischer Absicht umgarnt wird und im Zwiespalt zwischen Liebe und Heimattreue Selbstmord begeht, ließ Dovlet Nurgeldiyev (aus Turkmenistan) mit einem auffallend schön timbrierten, berührenden lyrischen Tenor aufhorchen, dem Sonderapplaus zuteil wurde.

Die dunklen Gestalten, Rafal Siwak, der polnishe Bassbariton, als der Egomane Galitzky, der durch seine Ausschweifungen die männliche Bevölkerung für sich zu gewinnen versucht, konnte ebenso imponieren wie der russische Bassist Tigran Martirossian als Kontschak, der Polowezer, der um Igors Freundschaft buhlt und gerne mit ihrm Frieden schließen möchte. Beeindruckend auch der rumänische Tenor Sergiu Saplacan als der getaufte Polowezer Owlur, der Igor zur Flucht verhilft. Die beiden Gauner und Radaubrüder Skula und Eroschka werden von Moritz Gogg (Bariton aus Graz) und Markus Petsch (Tenor aus Salzburg) mit prägnanter Komik und Hintergründigkeit stimmstark verkörpert. Als Polowezer Mädchen beeindruckt mit klarem jungem Sopran die Französin Solen Mainguené.

 Großartige Leistungen vollbringen die Stastinnen und Statisten, ebenso wie die Mitglieder diverser Chorgruppen, als gequälte Kreaturen, die männlicher Willkür und Genussucht hilflos ausgeliefert sind.

Wenn der Regisseur am Ende als Draufgabe die inhaftierten Pussy-Riot-Punkerinnen auftreten lässt, so ist das eine Lappalie, die der Authentiziät der 4-stündigen Produktion keinen Abbruch tut, anscheinend aber ausreicht, um in die medienwirksamen Attacken gegen Regiewillkür einzustimmen. Nein, in Hamburg ist diesmal hochseriöse Arbeit geleistet worden.

Sieglinde Pfabigan

 

 

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