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HAGEN: CARMEN

14.06.2013 | KRITIKEN, Oper

HAGEN: CARMEN Aufführung am 14.6. 2013 (Premiere am 8.6.)


Carmen (Kristine Larissa Funkhauser, 3. von rechts) fühlt sich in ihrer Umgebung sichtlich wohl. Foto: Theater Hagen/ Stefan Kühle

 Während des Vorspiels sieht man ein kleines Mädchen durch eine starre Menschengruppe schleichen, größer geworden, beginnt es, die Leute zu bestehlen. Armutsschicksal von Carmen, die sich dann als Frau offenkundig auf der Erfolgsleiter des Lebens sehen möchte. Carmens Kapital ist ihre erotische Ausstrahlung, ihr Körper, mit dem sie sich regelrecht anpreist. Dass ihr Tanz bei Lillas Pastia nicht in einer Schenke stattfindet, sondern in einem Bordell, ist nur folgerichtig. Dabei gelingt es ihr, sich Privilegien zu sichern. Während Frasquita und Mercédès die Einnahmen abliefern müssen, greift sich Carmen die Geldscheine, welche ihr von potentiellen Kunden, die mit nacktem Oberkörper auf ihre Chance warten, en masse zugeworfen werden, höchstselbst. In Carmens nüchtern berechnetem Leben ist für wirkliche Liebe kein Platz. Mehr als 6 Monate bleibt sie keiner Leidenschaft treu, auch Escamillo würde kaum ihr letzter Lover sein. Immerhin trifft sie in ihm auf Überlegenheit und Coolness, wie sie ihr selber eigen ist. Anders verhält es sich mit José, dem soldatischen Ehrenmann, den seine Liebe schier um den Verstand bringt, ihn zum Banditen und schließlich zum Mörder werden lässt.

 So in etwa ist das psychologische Konzept zu umreißen, welches Regisseur ANTHONY PILAVACHI in Hagen für Bizets „Carmen“ ersonnen hat. Seine Sicht ist nicht gänzlich neu, doch im Detail zugespitzt. Der modern gekleideten Protagonistin mit der hellen Kurzhaarfrisur fehlt – wie der gesamten Aufführung – das gewohnte Spanien-Kolorit. Auf Dauer ist das schon ein Verlust, zumal er durch keine Milieu-Alternative aufgewogen wird. Und Escamillo bleibt halt auch in Hagen ein Torero, dem Carmen zudem in ihrem bescheidenen (Bei)Schlafzimmer (der Chor agiert im 4. Akt auf luftig hoher Plattform) beim Ankleidezeremoniell umfänglich assistiert. Da klaffen atmosphärische Lücken. Dass im 3. Akt nicht nur Waren, sondern auch Menschen geschmuggelt werden, geht an, bringt aber wenig Gewinn, vor allem, wenn ein Bühnenbild wie das von PEER PALMOWSKI (der auch sonst vor Einfällen nicht gerade überbordet) so ortsneutral bleibt.

 Dieses Bild endet im Übrigen anders als gewohnt. Escamillo, sich zunächst wie vorgeschrieben entfernend und nur lontano zu hören, kehrt noch einmal zurück, damit der Regisseur José motivieren kann, auf ihn zu schließen. Aber die Kugel trifft Micaela. Forza del destino. Pilavachi will viel und erreicht doch nur relativ wenig. Manche Momente sind auch schlichtweg verfehlt, wenn etwa Carmen während der „Blumen“-Arie José im Haar krault, um ihm dann doch eine harte Abfuhr zu erteilen. Einfach ungeschickt wirkt es auch, wenn sie im Schlussfinale, von José attackiert, immer wieder an der verschlossenen Tür rüttelt. Im 1. Akt fährt sie zur Habanera mit einem Moped auf die Bühne. Was hat eine solch mondäne Frau mit den einheitlich schwarz gekleideten Zigarettenarbeiterinnen zu tun, mit denen sie sich laut Libretto massiv anzulegen hat?

 Komplimente sind der Hagener „Carmen“ immerhin im Bereich des Musikalischen zu machen. Nicht überall wirkt Bizets Musik mit optimaler Delikatesse umgesetzt, aber das Orchester spielt unter FLORIAN LUDWIG alert, mit Schneid und auch mit manch schönen koloristischen Details; der verstärkte Chor ist voll da. Dies gilt auch für KRISTINE LARISSA FUNKHAUSER in der Titelpartie, selbst wenn sie hier und da an vokale Grenzen stößt. Sie macht sich den berechnenden Typus Carmens, wie von Pilavachi angelegt, voll zu eigen, gibt sogar einen Schuss Lulu hinzu. Andererseits fehlt ihrer Darstellung jeder Anflug von Fatalismus (die Karten-Szene schreibt es eigentlich vor), und der extreme Freiheitsdrang Carmens kommt hinter kalter Kalkulation einfach zu kurz. CHARLES REID wirkt mit seiner kompakten Gestalt zwar nicht gerade als ein Mann, in den sich eine so wählerische Frau wie Carmen verliebt. Dieses Handicap macht er jedoch mit einer starken, intensiven Darstellung nahezu wett. Die Stimme des Sänger, der in Salzburg, an der Met auch in Bayreuth (Kunz Vogelgesang seit 2007) erfolgreich war, ist außerordentlich attraktiv, schmerzreich und leuchtend, wenn sie sich im Forte artikulieren kann. Aus dieser Dynamik besteht freilich nicht die gesamte Partie. In den beiden zugänglichen Youtube-Mitschnitten („Zauberflöte“, „Rigoletto“) wirkt er differenzierter und ausgeglichener. Den Escamillo gibt FRANK DOLPHIN WONG rollengerecht als Macho-Typ. Sein Bariton scheint an Volumen und Kraft zugelegt zu haben, seit er fest zum Hagener Ensemble gehörte. JACLYN BERMUDEZ umreißt die Micaela mit fraulichem Charme. Eine leichte Herbheit ihres Timbres hat Vorteile, wird doch so aus der Carmen-Konkurrentin kein Blaustrumpf. Überzeugend sind die Nebenrollen besitzt: MARIA KLIER (eine fast ständig beschwipste Frasquita), MARILYN BENNETT (Mercédès), JEFFERY KRUEGER (Remendado), RICHARD VAN GEMERT (Dancairo) und – mit einigem Abstand (seltsam nach seinem so überzeugenden Don GiovannI) – RAYMOND AYERS (Moralès). Als Zuniga spielt RAINER ZAUN günstig seine Bühnenpersönlichkeit aus.

 Christoph Zimmermann

 

 

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