Gunnar Decker:
RILKE
DER FERNE MAGIER
608 Seiten, Verlag Siedler, 2023
Rilke-Liebhaber stürzen in seine Gedichte hinein (von denen Normalmenschen nur einen Bruchteil verstehen), aber überraschend groß ist auch das Interesse an dem Menschen Rilke, zu dem es neben Werk- und Briefausgaben zahlreiche biographische Untersuchungen gibt. Der seltsame Mann aus Prag mit dem durch und durch unsteten Leben, dem in mancher Hinsicht (Geld, Frauen) ein gar nicht so sympathischer Hautgout anhaftet, ist zweifellos ein Faszinosun.
Dem hat sich der Autor Gunnar Decker nun wieder gestellt – nicht zum ersten Mal, vor rund zwei Jahrzehnten (2004) schon ist bei Zsolnay sein Rilke-Buch „Im Netzwerk der Sprache“ mit dem Schwerpunkt auf die Dichtung erschienen, und im gleichen Jahr setzte der Autor biographisch auf „Rilkes Frauen oder die Erfindung der Liebe“, wo er offen aussprach, wie oft der Dichter seinen Lebensunterhalt durch ihn bewundernde Weiblichkeit finanzieren ließ.
Nun fasst Decker – ganz ohne Jahrestag des Künstlers, der 1875 geboren wurde und 1926 gerade 51jährig starb – in dem Buch „Rilke. Der ferne Magier“ umfangreich auf über 600 Seiten Biographisches und Interpretatorisches zusammen. Keine leichte Aufgabe, wie man schon aus anderen Lebensschilderungen des Dichters weiß, denn es war ein Leben ohne Kontinuität, ohne Ruhepunkt, hektisch immer Neues suchend – von Gedicht zu Gedicht, könnte man sagen, daneben nur zwei größere Prosa-Werke (der „Cornet“ und der „Malte“), Bewunderung allerseits, aber nie etwa die lukrativen Riesenerfolge, die ein Hofmannsthal, ein Schnitzler auf dem Theater einfahren konnten. (Rilkes Stücke fielen in seinen Anfängen durch. und dann spielte Dramatik keine Rolle mehr in seinem Leben).
Die Absichten seiner Betrachtung formuliert Gunnar Decker selbst – Wendepunkte und Widersprüche aufzuspüren, die vielen Menschen und Orte in dessen Leben einzuordnen, in der Dichtung nicht zuletzt das religiöse Element zu finden („Bis in sein Spätwerk hinein sucht Rilke die Spur Gottes in der Welt und in den Menschen“, formuliert der Autor).
Und das alles zu einer lesbaren Lebensgeschichte zusammen zu fügen, die einen Mann, den schon auf seinen Fotos das Flair des Rätselhaften umgibt (eine „Aura der Distanz, die ihn schützt“, nennt es der Biograph) greifbar zu machen.
Interessant (wenn auch nicht unberechtigt) ist dabei, wie düster der Autor schon in seinen Kapitelüberschriften dieses Leben konnotiert. Da folgen auf „Anfänge“ und „Aufbrüche“ dann die Krise, die Verwandlung, der Absturz, die Flucht, die Isolation und das Sterben.
Dabei hat Rilke nach Anfängen, die nicht in seiner Hand lagen (Kindheit in Prag, wo er immerhin zur deutschen Oberschicht zählte, Militärschule) stets versucht, ein selbst bestimmtes Leben zu führen und sich als „Dichter“ zu zelebrieren. Wovon er nicht leben konnte (weder Lust noch Talent zu „bürgerlichen“ Arbeitsverhältnissen, schon ein systematisches Studium war nichts für ihn gewesen) – also bewegte er sich oft im Kielwasser anderer Menschen.
Die für ihn wichtigste, davon ist der Autor überzeugt, war Lou Andreas-Salome (die aus dem Prager „René“, wie er damals noch hieß, den „Rainer“ machte), der er auf die Dauer zu anstrengend wurde, so dass sie ihn aus ihrem Leben entfernte. Sonst war er es, der immer wieder weiter zog, meist auch ohne Rücksichten, was nicht zu unserer moralischen Korrektheit passt – Gattin und die kleine Tochter zu verlassen und sich quasi nie wieder sonderlich um sie zu kümmern, würde man ebenso als charakterlichen Makel betrachten wie die Tatsache, dass Rilke einen Großteil seines Lebens als „Schnorrer“ (wie das freundliche österreichische Wort anstelle von „Schmarotzer“ heißt) durchs Leben ging.
Anfangs (bis zu seinem 26. Lebensjahr) von seinem Onkel, dann von seinem Vater finanziert (das Erscheinen seines ersten Gedichtbandes zahlte eine opferbereite Geliebte), später auch von den wohlhabenden Eltern der Gattin, hat Rilke dann Mitmenschen oft auch dazu benützt, sich kostenfrei dem Leben anderer anzuschließen. Immer hat Rilke bewusst an seinen „Bekanntenkreisen“ gearbeitet.
Zieht man die noch ausführlichere Zeittafel der Leppmann-Biographie (Scherz 1981) heran, wird klar, in welch zügellosem Ausmaß Rilke gereist ist (seit seiner ersten Venedig-Reise lockte immer die Ferne), nicht nur wie viele Hotels, sondern auch Wohnungen er immer wieder bezogen hat – hätte er alles selbst bezahlen müssen, hätte er sich das nur als über die Maßen reicher Privatier leisten können. Doch er fand immer Förderer…Und dabei führte ein Mann, der lebenslang kränkelte (und am Ende an Leukämie schwer erkrankt war), dieses extrem anstrengende Leben.
Vieles daran würde den Mann klein machen, der allein durch seine Leistungen doch in hohem Maße bemerkenswert ist, von der ganz eigentümlich geprägten Prager Kindheit (die Ehe der Eltern war schlecht, die Mutter wollte ihn zum „Mädchen“ machen, weil ihr erstes Kind, eine Tochter, verstorben war – und der Sohn hat sie dafür gehasst) bis zum Ende in der französischen Schweiz, wo in ihm denr finale Wunsch geweckt wurde, ein „französischer Dichter“ zu werden.
Dazwischen all die schier unübersichtlichen Stationen, von denen viele ihrer Bedeutung wegen Spezialuntersuchungen erfahren haben – ob es die Russland-Reisen waren, die Beziehung zu Auguste Rodin, seine fesselnden Verhältnisse zu so vielen nicht unbedeutenden Frauen, die ihn wohl so erlebt haben wie Marie von Thurn und Taxis (seine Gastgeberin in Duino): „…sehr sympathisch. Äußerst schüchtern, aber von ausgezeichneten Umgangsformen und einer seltenen Vornehmheit.“
Und im Lauf all dieser eher unruhevollen Ereignisse entstehen die Werke, die Gunnar Decker organisch in den Lebensfluß einarbeitet. Und auch nicht die „Abweichungen“ vergisst – Rilkes seltsames Eintreten für die Todesstrafe, seine noch seltsamere Bewunderung für Mussolini…
Der Autor erzählt dieses Leben ungemein lebendig, es scheint, als ob er mit dem Leser über Rilke spräche, wobei er viele Originalzitate aller Art einfügt. Menschen, Zeitgeist, Umstände werden höchst anschaulich geschildert. Das Schwierige dieser Biographie wird solcherart erleichtert, man geht in dieses unstete Leben mit kaum erlahmendem Interesse hinein.
Renate Wagner