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GIESSEN: VIKTORIA UND IHR HUSAR von Paul Abraham. Premiere

18.11.2012 | KRITIKEN, Oper

Gießen: „VIKTORIA UND IHR HUSAR“ Premiere am 17.11.2012

(Werner Häußner)

 „Reich mir zum Abschied noch einmal die Hände“: Dieser langsame Walzer aus Paul Abrahams Operette „Viktoria und ihr Husar“ hatte das zweifelhafte Vergnügen, zum Schreckbild aller verlogenen Operetten-Sentimentalität zu avancieren. Sein schmierig-langsames Tempo, seine portamentogesättigte Melodik, der süßliche Chor der Schmachtgeigen dazu: Das war das Spottbild von Omas Operette – und so verlor die Gattung bei Künstlern und schließlich auch beim jüngeren Publikum ihre Reputation. „Viktoria“ wurde zum Fall ewig gestriger Stadttheater-Seligkeit; als seriöser Musiker war man gut beraten, die Finger von so etwas zu lassen.

Spätestens seit 17. November müssten solche Urteile grundlegend revidiert werden. Was sich bei der sensationellen Wiederaufführung einer ans historische Original angenäherten „Blume von Hawaii“ an der Wiener Volksoper schon ankündigte, trifft auch für „Viktoria und ihr Husar“ zu: Die Originalgestalt dieser Operetten war alles andere als der zuckerig-harmlose Kitsch, den die Fünfziger-Jahre-Bearbeitungen und die Operettenshows des jungen Fernsehens uns zugemutet haben. Im Gegenteil: Hier erklingt frech-witzige, glänzend instrumentierte, in viele Farben facettierte Musik. Wer Schellack-Platten aus den zwanziger und dreißiger Jahren kennt, erkennt den Sound. Paul Abraham – wie übrigens andere seiner Kollegen auch – hatten Anderes im Sinn als die Einlullung des Publikums. Die ist eine Erfindung der Nazis. Sentiment ja, Sentimentalität nein.

So erklang „Viktoria und ihr Husar“ am Stadttheater Gießen in einer „Erstaufführung einer bühnenpraktischen Rekonstruktion“. Das Programmheft und ein Gespräch mit Dirigent Florian Ziemen gibt Aufschluss, was mit der umständlichen Beschreibung gemeint ist: Die Gießener Aufführung stützt sich auf Material, das für eine von unbekannter Hand bearbeitete Fassung aus den Fünfzigern galt: voll instrumentiert und damit „unheimlich laut“. Ziemen und die Bearbeiter, die Operetten-Spezialisten Henning Hagedorn und Matthias Grimminger, sind jedoch überzeugt, in dem Notenmaterial jene „Zentralpartitur“ gefunden zu haben, von der zeitgenössische Quellen sprechen – unter anderem der Komponist Nico Dostal. Der gibt eine detaillierte Schilderung, wie Paul Abraham an seiner Idee einer „Jazz-Operette“ gearbeitet hat.

Die „Zentralpartitur“ nimmt darin eine Schlüsselstellung ein: Sie notiert die Instrumentengruppen – Streicher, Holz- und Blechbläser – so, dass jede Gruppe einzeln spielbar ist. Abraham habe nun, so der Bericht, erst in den Proben festgelegt, welche Nummern(-teile) von welcher Gruppe oder in welcher Kombination zu spielen sei. Auch die Solo-Violine konnte so – einem Orgelregister ähnlich – ein- oder ausgeschaltet werden; die beiden Klaviere hatten sowieso freie – improvisationsfreundliche – Hand. Das Werk bildete sich erst „ad hoc“ im Graben, mitgeformt durch erfahrene Jazzer, denen der Freiraum zum spontanen Musizieren gewährt war.

Auf diese Weise entsteht ein spritziges, lebendiges, freies Musizieren, inspiriert vom Augenblick und doch kontrolliert vom Dirigent. Und die angeblich massive Instrumentation weicht einem flexiblen, agilen Klangbild, das zeigt, warum die zeitgenössische Kritik Abraham als „glänzenden Instrumentationstechniker“ für ein „sprechendes Orchester“ rühmte.

Doch nicht genug der literarischen Rekonstruktion: Florian Ziemen hat gemeinsam mit den Bearbeitern, mit Jazz-Größen wie Reimer von Essen und mit seinen engagierten Orchestermusikern Detailstudien zur Instrumentation betrieben: „Wir haben alte Aufnahmen studiert, uns mit der Stilistik des Jazz der zwanziger Jahre beschäftigt und ein eigenes Workshop für Dinge wie Intonation oder Anblastechnik gehalten.“ Außerdem erklingen im Gießener Orchestergraben teils rekonstruierte, teils von Sammlern ausgeliehene Instrumente der Zeit, etwa spezielle China-Becken, die heute nicht mehr benutzt werden. Das erste der drei Saxofone ist ebenfalls ein historisches Instrument mit dem typisch schmeichelnd-weichen Ton der Zeit.

Das Ergebnis macht unglaublich Spaß und hebt die „gute alte“ Operette in die Sphäre der anarchischen, ironischen, vorlauten Unterhaltungsmusik der zwanziger Jahre. „Nur ein Mädel gibt es auf der Welt“ verwandelt die gummiartige Agogik früherer Versionen in ein unsentimental flottes Tanzlied mit aparten Kontrasten in der Begleitung und rhetorisch stimmigen Tempowechseln; „Rote Orchideen“ wird zum lyrischen Tanzlied und Viktorias „Wenn ich an die Heimat denke“ hält mit einer fragilen Begleitung durch Violine und Klavier zärtlich inne, während die „Mama aus Yokohama“ mit flott-phantastischen Saxofonen und einer virtuosen Tuba glänzt.

Auf einmal gibt es in der scheinbar so biederen Partitur unglaublich viel zu entdecken; die Lust am Erschließen und Genießen der Klangfarben Abrahams (oder seiner aktuellen Bearbeiter) trägt durch den langen Abend, der erst im letzten Akt ein wenig Schwung verliert, weil die ungarischen Volksszenen schon immer einige Takte zu lang waren. Gar nicht schlecht dagegen die bisher nie gehörten Stücke, die Ziemen aus der alten Verfilmung beziehungsweise einer Londoner Aufführungsfassung eingefügt hat: eine Rumba-Introduktion, ein Duett und ein ungarischer Tanz.

Getanzt wird viel auf dem Parkett der Gießener Bühne, und das Regie- und Ausstattungs-Duo Alexandra Szemerédy und Magdolna Parditka nutzen den Bewegungsdrang der Musik zu einem bestürzenden Kontrast im Bild. Der zweite Akt beginnt an einem Schlagbaum: Auf der einen Seite amerikanisch-bunte Kostüme und fetzige „do do do“ – Rhythmen, auf der anderen eine finstere, schweigende Gruppe russischer Soldaten mit Gewehr im Anschlag. Ein massiver Hinweis auf die eisernen Vorhänge, die unsere Welt schon zu Paul Abrahams Zeiten in den Köpfen, später mit Minen und Stacheldraht zerschnitten haben.

Das ungarische Team holt die politische Brisanz der Zeit in die Operette zurück, spielerisch zwar, manchmal auch drastisch, selten ironisch, aber immer mit einem Ernst, der die Heile-Welt-Bilder nachdrücklich irritiert, ohne die Leichtigkeit des Genres zu zerstören. Die Geschichte des ungarischen Husarenoffiziers, der sich aus russischer Gefangenschaft in die amerikanische Botschaft in Japan rettet und dort seine ehemalige Geliebte als Gattin des Botschafters wiederfindet, erzählen Szeremédy und Parditka als gefühlvolle Tragödie eines eleganten Paares, ohne die Gefühle zu desavouieren oder ironisch zu zerbrechen. Die Soldateska, ob russisch oder ungarisch, wird schonungslos gezeigt. Kein Zauber der Montur, sondern knallharte Kämpfer in Uniform und „Security“-Outfit, die prügeln und schießen. Die „Folie“ der Operettenwelt ist Gewalt, Blut und Willkür; und Stefan Koltay und sein treuer Zigeunerprimas Janczi sind die Opfer. Ihre Flucht aus dem Lager ist ein irrealer Rückblenden-Moment; man möchte meinen, der „Film“ im Augenblick des Todes laufe ab.

Die Regie-Damen aus Ungarn geizen auch nicht mit Kritik an der Gegenwart: Zwei Räume einer spießigen Kleinfamilien-Wohnung flankieren die Bühne. Die frustrierte Mutter Piroschka (Marie-Louise Gutteck passt mit heiser geschrieener Stimme eher in „Frau Luna“) steht in Lockenwicklern am Herd, Rainer Hustedt als prolliger Pörkölty schnappt die Bierflasche auf, während der pubertierende Sohn Miki (Sebastian Songin) aus der heimlichen Lektüre von Porno-Heftchen lernt, wie menschliche Genitalien korrekt zu bezeichnen sind. Man spürt, wie die Ungarinnen an den aktuellen Verhältnissen in ihrer Heimat arbeiten: Bei Piroschkas zu Haus wechseln sich Hitler-, Stalin- und Orbán-Bild ab; man geht mit den Verhältnissen.

Am Ende, wenn nichts mehr geht, wirft sich Mutter Piroschka in grün-weiß-roten Folklore-Fummel und feiert das „Heimatland“, während sich der mittlerweile adoleszente Sohn angeekelt in den Protest verabschiedet. Dazwischen wird Pörkölt gekocht und befrackte Schweine in ungarischen Farben wandern in einen Kessel, aus dem nicht nur das frisch vermählte Paar Ferry (Dan Chamandy) und O Lia San (Naroa Intxausti) emporsteigen, sondern auch jede Menge paprikaroter Salamiwürste: Ungarland, Heimatland, bevölkert von heruntergekommenen Proleten in Fußballklamotten, die das hässliche Lied des Nationalismus anstimmen. Personen als Spiegel von Geschichte: Das funktioniert nicht schlecht, weil Szeremédy und Parditka bei ihrer leichten Hand bleiben. Dass manchmal das erläuternde Element zu breit ausgeführt wird, sei ihnen nicht verdacht, auch wenn es das Tempo der Operette hemmt. Das Engagement, das dahinter spürbar wird, versöhnt.

Dass die Mitglieder des Gießener Ensembles sich auf Tempo und Tonfall dieser Zeitgeist-Operette einlassen können, verdient Bewunderung. Auch im Chor (Jan Hoffmann) spürt man das Bemühen, weg von Bewegungsklischees zu kommen. Tarek Assam und Anthony Taylor holen aus den Chordamen und –herren und der kleinen Gießener Tanztruppe das Bestmögliche für ihre Choreografien heraus. Hauke Möller setzt für den Stefan Koltay einen leichten, idiomatisch passenden Tenor ein, der manchmal etwas zu unkontrolliert geformt ist. Tomi Wendt ist ein schwarzgelockter Janczy mit Charme, Temperamt und Schwermut. Anna Gütters Riquette verbindet dralle Erotik mit dem nicht immer sauber gestimmten Glockenton eines ultraleichten Soprans, und Calin-Valentin Cozma dunkelt die Niedergeschlagenheit des anständigen erotischen Verlierers John Cunlight mit mal sonoren, mal qualligen Basstönen ein.

Ein Spezialfall ist Maria Chulkova als Viktoria: Eine wunderschöne, elegante, schlanke Erscheinung, hoheitsvoll und melancholisch, träumerisch und sinnlich, pflichtbewusst und doch hingerissen von der hingebungsvollen Liebe ihres Husaren. Aber ihr Dialog klingt oft wie aufgesagt und ihr Sopran neigt dazu, an die Stelle geschmeidiger Sinnlichkeit eine gläserne Schärfe zu setzen, die aber nicht genügend trägt, um das Orchester zu überstrahlen.

Gießen hat mit „Viktoria und ihr Husar“ eine beispielhafte Wiederentdeckung auf die Bühne gebracht. In diesem Haus lebt unter der Leitung von Intendantin Cathérine Miville ein frischer, lebendiger Geist, der manchen behäbigen Operntanker – zum Beispiel im nicht weit entfernten Wiesbaden – fröhlich hinter sich lässt. Dass die nächsten Premieren in Gießen „Oberto“ (Verdis erste Oper) und „Fosca“ (eine Rarität von Carlos Gomez) heißen, bestätigt nur diese Linie einfallsreicher Theaterlust. Andere Städte haben guten Grund, neidisch nach Gießen zu blicken.

 Werner Häußner

 

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