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GIESSEN: TANZ AUF DEM PULVERFASS . Operette von Gustave Adolph Kerker

26.01.2014 | KRITIKEN, Oper

Operettenausgrabung in Gießen: „Tanz auf dem Pulverfass“ von Gustave Adolphe Kerker (Vorstellung: 26. 1.2014)

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Die Operettenausgrabung in Gießen begeisterte vor allem durch viele ansprechende Tänze (Foto: Rolf K. Wegst)

 „Der Vergessenheit entrissen“ – so kündigte das Stadttheater Gießen ihre neueste Produktion in ihrer Reihe der ungewöhnlichen Operettenausgrabungen an. Die amerikanische Tanzoperette „Tanz auf dem Pulverfass“ von Gustave Adolph Kerker war vor mehr als hundert Jahren ein Auftragswerk des Berliner Metropol-Theaters und feierte ihre  Uraufführung 1909 unter dem Titel „Die oberen Zehntausend“, wobei der Komponist selbst dirigierte und in den Hauptrollen Gäste aus New York und London zu erleben waren.

 Kerker wurde 1857 als Kind einer Musikerfamilie in Herford in Westfalen geboren und lernte schon im Alter von sieben Jahren das Cellospiel. Als Zehnjähriger übersiedelte er mit seinen Eltern nach Amerika, wo er bald in einem Orchester spielte und mit 16 Jahren zu dirigieren begann. Für das am Broadway neueröffnete Bijou Theatre adaptierte und arrangierte er Werke anderer Komponisten, wodurch er sich bald einen Namen machte. Seinen internationalen Durchbruch schaffte er mit „The Belle of New York“, das 1898 in London uraufgeführt wurde und auf zahlreichen europäischen und amerikanischen Bühnen gespielt wurde. Dieses Werk von Kerker wurde zum Inbegriff der amerikanischen „musical comedy“. Umso erstaunlicher, dass das Werk heute vergessen ist. Ebenso wie die einst gefeierte Tanzoperette „Die oberen Zehntausend“, die durch die großen Erfolge der Wiener Operetten von den Spielplänen verdrängt wurde. 1923 starb Gustave Adolphe Kerker in New York an den Folgen eines Schlaganfalls.

 Die Handlung der Tanzoperette „Tanz auf dem Pulverfass“, dessen Libretto Julius Freund nach einer Komödie des französischen Autors Victorien Sardou verfasste, kurz zusammengefasst: Zwei ältere Millionäre und ihre verwöhnten Sprösslinge, ein scheinheiliger Lebemann und eine selbsternannte Prinzessin, sowie ein verliebter Chauffeur sind die Personen der Handlung, die ständig aberwitzige Kapriolen schlägt. Es wird geflirtet, Verlobung gefeiert, intrigiert und getanzt, was das Zeug hält. Erst als es zu einem Börsenkrach kommt und fast alle auf dem Trockenen sitzen, wird klar, dass es so nicht weitergehen kann. Doch andererseits – macht nicht gerade so ein Tanz auf dem Pulverfass am meisten Spaß?

 Roman Hovenbitzer, der in Gießen bereits seine dritte Regiearbeit innerhalb weniger Jahre ablieferte, überarbeitete das Libretto und siedelte das Werk in der Welt der Börsenspekulanten an. Seine Inszenierung war schwungvoll, mit viel Humor und Ironie angereichert und bot parodistische Szenen zur heutigen Politik und dem unseligen Bankenwesen. Unnötig die Änderung von Namen in Anspielung auf die heutigen Skandale (Chatillard wird zu Dominique Kahn-Stross, de Larivaudière zu Mont-Guttenberg und die Bank zu Lehman-Brothers). Auch wäre mancher Gag besser unterblieben. Das gut ausgewählte, typengerechte Sängerensemble wurde durch seine gute Personenführung auch schauspielerisch gefordert.

 Leider fiel der dritte Akt stark ab – die Einfälle wurden rarer und vieles unverständlich. Gerettet wurde er bloß durch die kreativ gestalteten, schmissigen Tanzszenen (Choreographie: Stefan Haufe). Das praktikable Bühnenbild mit schrägem Laufsteg und halbkreisförmigem Podest sowie die phantasievollen Kostüme mit goldenem Bauchpanzer für die Millionäre und raffinierten Gewändern für den Chor und die Sängerinnen, die des Öfteren recht sexy wirkten, schuf Hank Irwin Kittel.

 Die Vorstellung begann mit einer „gekünstelten“ Verspätung. Die Schauspielerin Marie-Louise Gutteck, die einen wunderbaren Conférencier abgab, vermisste das Orchester, ließ ein Klavier auf die Bühne schieben, auf dem der Pianist Evgeni Ganev erste Melodien intonierte, und begrüßte dann auf süffisante Art und Weise die eintrudelnden Musiker und den Dirigenten. Der Gag wiederholte sich zum Gaudium  des Publikums am Ende der Aufführung nochmals und ist wohl eine Anspielung auf die Kulturpolitik in vielen deutschen Städten, die gerade für die Orchester ein großes Problem bedeuten. Das Philharmonische Orchester Gießen gab unter der Leitung von Florian Ziemen die flotte Musik, die auch Ohrwürmer beinhaltete, schmissig wieder, wodurch die vielen Tanzszenen eine besondere Qualität erreichten.

 Aus dem Sängerensemble sind in erster Linie die Damen zu nennen: So bot die junge Sopranistin Désirée Brodka als Prinzessin Fifi eine exzellente Leistung und machte in jeder Kleidung eine gute Figur. Ihren Bruder James Boche gab der Bariton Tomi Wendt, der sich vor Beginn der Vorstellung als „verkühlt“ ansagen ließ, mit gewohnter Routine. Er war allerdings nicht der einzige, der mit Wangenmikrophon sang. Was wieder einmal zur Folge hatte, dass sich sie Sänger bei den Sprechszenen anschrieen.

 Zurück zu den Sängerinnen, die allesamt ihre Sopranrollen als Töchter von Kahn-Stross sowohl darstellerisch wie auch gesanglich erstklassig gestalteten:  Naroa Intxausti als Ivette, Judith Spiesser als Germaine und Aline Wilhelmy als Claire. Humorvoll und mit Augenzwinkern gaben die Tenöre Thomas Stückemann, Dan Chamandy und Ricardo Frenzel Baudisch die Millionäre Dominique Kahn-Stross, Théophile Boche und Gaston de Mont-Guttenberg sowie der Bassbariton Calin-Valentin Cozma Moulinette, den Schwiegersohn von Kahn-Stross. Den verliebten Chauffeur Oliver spielte der Tenor Andreas Kalmbach. Stimmlich waren die Männerrollen keine Herausforderung, schauspielerisch mussten sie einiges auf der Bühne leisten.

Gefordert hingegen war die Tanzcompagnie Gießen, die das Publikum immer wieder durch ihre oftmals artistisch anmutenden Tänze begeisterte. Zirkusartig hatte des Öfteren der Chor zu agieren (Leitung: Jan Hoffmann), beispielsweise als „Klub der modernen Frau“. Leider ließ die Textverständlichkeit des Chors diesmal zu wünschen übrig.

 Das Publikum unterhielt sich prächtig und dankte allen Mitwirkenden mit lang anhaltendem Applaus. Gespräche an der Garderobe nach der Vorstellung bewiesen mir, dass die Zuschauerinnen und Zuschauer den Text des Titelsongs „Wir tanzen auf einem Pulverfass – und grad das, grad das macht Spaß. Man tanzt, auch wenn schon die Lunte brennt, man tanzt, man tanzt bis zum letzten Moment“ als recht aktuell empfunden haben.

 Udo Pacolt

 

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