Im Rahmen eines Gastspiels des London Symphony Orchestras in der Frankfurter Alten Oper gelang es unserem Redakteur, Dirk Schauß, den Dirigenten des Konzertabends, Gianandrea Noseda, für ein Interview zu gewinnen. In sehr persönlichen Anmerkungen sprach der desginierte GMD über sein bisheriges künstlerisches Leben. Das Interview wurde in italienischer Sprache geführt.
Gianandrea Noseda. Foto-Copyright: Steve Sherman
DS
Mariss Jansons ist gestern gestorben.
GN
Das ist so traurig. Ein großer Verlust!
DS
Werden Sie heute an ihn denken?
GN
Das habe ich bereits gestern getan. Am Samstag haben wir in Köln die siebte Symphonie von Schostakowitsch gespielt, die sog. „Leningrader“ und in der Nacht starb er in St. Petersburg, dem früheren Leningrad. Jansons war ein Großer in der Musik, aber eben auch als Mensch. Seine Ehrlichkeit, seine große Seele und sein großes berührbares Herz.
DS
Was bedeutet Ihnen das heutige Konzertprogramm?
GN
Ich möchte versuchen, so viel Seele in die Musik von Tschaikowsky zu legen, wie es möglich ist. Jeder Komponist bringt sehr viel von sich in die jeweilige Musik ein, vergleichbar mit einem selbst verfassten Tagebuch. Das Schöne an einem musikalischen Tagebuch ist, es ist immer für uns da. Und so gelangen wir in die Seele des Komponisten und an deren Wahrheit.
DS
Die drei letzten Symphonien von Tschaikowsky formulieren intensiv das Schicksal als Hauptthema. Auch in der fünften Symphonie ist das deutlich erkennbar. Sehen Sie daher dieses Werk als „Schicksals-Symphonie“?
GN
Oh ja, es ist sehr klar bereits am Beginn in der Klarinette als Thema erkennbar. Im zweiten Satz wird es dramatisch zugespitzt und selbst im Walzer wird es zitiert.
Am Beginn hat das Thema etwas von einem Trauermarsch und am Ende gibt es eine Transformation ins Licht, mehr noch in eine siegreiche Tonsprache.
Dennoch, das Schicksal ist in der gesamten Musik von Tschaikowsky zentral, auch in seinen Opern „Eugen Onegin“, „Pique Dame“ oder „Jolanthe“
DS
Woher kommt bei Ihnen die Nähe zur russischen Musik?
GN
Oh, ich interessiere mich für die russische Literatur und ich hatte die große Ehre, russische Dirigenten wie Valery Gergiev oder Vladimir Delman zu begegnen. Delman wirkte u.a. am Beginn meiner Karriere in Mailand. Eine prägende Erfahrung. Dann kam es, dass ich in einem meiner ersten Konzerte nur Musik von Prokofjev dirigierte, seine fünfte Symphonie und sein Ballett „Romeo und Julia“.
Als Student hatte ich Gelegenheit an einer Meisterklasse von Gergiev teilzunehmen. Daraufhin lud er mich nach St. Petersburg ein, um am dortigen Mariinsky-Theater zwei Produktionen zu leiten. Dies waren „Le nozze di Figaro“ und „Rigoletto“. Im Anschluss daran wurde mir dort eine Stelle als erster Gastdirigent angeboten. Und so lernte ich die russische Musik kennen und lieben, aber auch die russische Kultur, das dortige Leben. Das war eine besondere Erfahrung, denn ich lebte dort seinerzeit nicht in Hotels, sondern in einer Künstlerwohnung des Theaters. So hatte ich intensiven Kontakt zu allen, nicht nur zum Orchester, sondern zu den Sängern, dem Ballett und dem Chor. Durch dieses Eintauchen in das russische Leben konnte ich die Mentalität viel besser verstehen und begreifen, woraus die russische Musik ihren Ursprung bezogen haben mag.
DS
Sie haben dort für zehn Jahre gearbeitet?
GN
Ja, von 1997 – 2007.
DS
Einer ihrer wichtigen Förderer war Valery Gergiev. Was haben Sie von ihm gelernt?
GN
Ich lernte viel von ihm, vor allem, wie Musik „erzählt“ werden muss. Wie wird eine Geschichte erzählt, wo sind die Spannungsmomente, die Geheimnisse, die Überraschungen, die Exstase, die Ruhepole, die Geduld…., wie lasse ich die Musik sprechen und oder eben „erzählen“?
Und Gergiev hat eine große Sensibilität für den Orchesterklang und wie man Ideen in orchestrale Klänge transformiert. Damit agiert Gergiev wie ein Zauberer! Seine Klangvorstellungen und sein Sinn für musikalische Gestaltung haben mich sehr geprägt.
DS
Wie war die Zusammenarbeit am Theater in Sankt Petersburg? War es schwierig am Beginn?
GN
Nein, gar nicht. Natürlich war es eine Zeit des Wandels, der Fall der Mauer lag wenige Jahre zurück, aus Leningrad wurde St. Petersburg, das frühere Kirow-Theater wurde in das heutige Mariinsky-Theater umbenannt.
Es war sehr zu spüren, dass eine neue Zeit begann, ein neuer Weg beschritten wurde. In dem Theater gibt es einen außerordentlichen Zusammenhalt, wie in einer Familie und ich war sehr schnell ein Teil davon. Es war immer eine Mischung aus Liebe und Respekt untereinander. Und durch den Respekt gibt es auch eine Distanz, aber alles war von einer Wertschätzung getragen.
Natürlich war ich am Theater vor allem für das italienische Repertoire verantwortlich. Ich habe versucht, die Leidenschaft, die Intensität der Russen, die sich stark in ihrem Repertoire zeigte, auch in meinen Dirigaten zu berücksichtigen.
DS
Dazu haben Sie aber auch dort schon russisches Repertoire dirigiert?
GN
Ja, z.B. „Krieg und Frieden“, „Die Verlobung im Kloster“ von Prokofjev oder „Pique Dame“ und sogar „Boris Godunow“.
DS
Nach ihrer langjährigen Tätigkeit als Musikdirektor in Turin, werden Sie nun 2021 Musikdirektor am wichtigsten Opernhaus der Schweiz, in Zürich.
Welche Erwartungen haben Sie an diese Aufgabe?
GN
Ein neues Kapitel für mich! Es ist eine große Verantwortung, wieder ein Opernhaus musikalisch zu leiten mit allem, was dazu gehört. Das zentrale Projekt wird die Neuproduktion von Wagners „Ring des Nibelungen“ sein. Natürlich kommen noch andere Produktionen hinzu, z.B. aus dem italienischen und russischen Repertoire.
Ich kenne das Opernhaus Zürich, denn ich habe dort vor zwei Jahren den „Feurigen Engel“ von Prokofjev dirigiert, außerdem eine Wiederaufnahme von Verdis „Macbeth“. Es ist ein sehr aktives Opernhaus, sehr frisch und voller Enthusiasmus, sehr produktiv. Ich freue mich sehr auf dieses neue Abenteuer!
DS
Ist das Ihr erster „Ring“?
GN
Ja, das ist er. Von Wagner habe ich in Turin „Tristan und Isolde“ und „Der Fliegende Holländer“ dirigiert und „Lohengrin“ in St. Petersburg, wie auch dort den „Holländer“.
DS
Welche weiteren Werke stehen auf Ihrer Wunschliste?
GN
Sicherlich noch weitere Opern von Verdi, aber natürlich auch Puccini.
DS
Ich weiß, dass Sie für einen Komponisten eine besondere Sympathie hegen.
Welche Bedeutung hat Alfredo Casella für Sie?
GN
Oh ja. Ich habe in Turin seine Oper „La donna serpente“ aufgeführt, was sehr gut beim Publikum ankam. Davon gibt es auch eine soeben veröffentlichte DVD. Es gibt einige Komponisten, die es verdienen, in den Mittelpunkt des Interesses zu gelangen.
Casella steht mir als Komponist sehr nahe. Er hatte ein sehr erfolgreiches Leben. Leider geriet er nach dem 2. Weltkrieg in Vergessenheit. Seine Sinfonien zwei und drei sind von großer Qualität, auch die übrigen Orchesterwerke sind von großer Schönheit, z.B. seine Rhapsodie „Italia“.
DS
Ich erinnere mich an Ihr Gastspiel beim HR-Sinfonieorchester.
GN
Richtig, da habe ich Casellas zweite Symphonie dirigiert.
DS
Dirigieren Sie lieber Oper oder Konzerte?
GN
Beide sind für mich gleichwertig und ebenso wichtig. Ich wechsele gerne und beide Genres befruchten sich. Wenn ich viele Opern dirigiere, dann wird mein Bedürfnis groß, wieder Konzerte zu leiten. Und wenn ich viele Konzerte mache, dann fehlt mir die menschliche Stimme.
In meinen Konzerten versuche ich immer etwas von der Faszination der Stimme in den Orchesterklang zu tragen. Und in der Oper versuche ich die Präzision aus der Konzertarbeit stärker zu etablieren. So profitieren beide Sparten von einander.
DS
Welche musikalischen Idole haben Sie?
GN
Für mich sind es Dirigenten, die eine gute Balance aus Technik und musikalischer Seele vereinen, wie z.B. Victor de Sabata, den ich sehr schätze, ebenso Ferenc Fricsay oder Dmitri Mitropoulous. Ich spreche hier bewußt nur die verstorbenen Maestri an, damit sich keiner der lebenden Dirigenten benachteiligt fühlt (lacht).
Und natürlich verehre und liebe ich Mariss Jansons sehr. Aber letztlich gibt es natürlich unter den lebenden Dirigenten Vorbilder, wie Donato Renzetti, Myung Wun Chung und Valery Gergiev.
DS
Was lautet Ihr musikalisches Credo?
GN
Mein musikalisches Credo, nun das ist die Musik selbst! Unser Auftrag als Ausführende ist es, die Musik sprechen zu lassen.
Was muss die Musik aus sich heraus sagen? Es ist nicht so wichtig, was wir als Interpreten sagen, sondern wir müssen die Musik sprechen lassen.
Wir sind die Diener der Musik. Für uns Interpreten ist es extrem schwer, nur die Musik sprechen zu lassen.
Natürlich gibt es immer ein subjektives Empfinden darauf. Aber es darf nicht zu stark sein.
DS
Was ist für Sie ein unvergesslicher musikalischer Moment?
GN
Oh, das sind rare Momente! Aber, ob im Konzert oder in der Oper, wenn alle Herzen unisono schlagen, dann ist ein solcher Moment erreicht. Das kann ein kleiner Moment sein, in dem alles enthalten ist. Der ganze Kosmos. Pure Magie. Aber es gibt keine Chance, solche Momente festzuhalten. Sie kommen und gehen. Ich kann solche Momente nicht bewusst herbeiführen, sie entstehen.
DS
Sie haben nahezu überall dirigiert und dazu viele berühmte Orchester.
Gibt es noch Träume für Sie?
GN
Träume gibt es immer! Letztlich träume ich davon, immer noch besser zu werden. Es ist eine unendliche Reise.
Ich bin sehr glücklich, auf einem guten Weg zu sein. Aber das Streben, sich zu verbessern, betrifft alle Bereiche, ob als Dirigent, als Mensch, als Sohn, als Freund oder als Ehemann. Aber das ist schwierig. Wir wissen nicht, was der nächste Morgen bringt.
DS
Wie steht der Operndirigent Noseda zu modernen Inszenierungen?
Oder bevorzugen Sie lieber konservative Produktionen?
GN
Mir gefallen die Produktionen, die es schaffen mit dem Libretto und der Musik Hand in Hand zu gehen, die die Geschichte erzählen. Ich habe traditionelle Produktionen gesehen, die das Herz der interpretierten Oper nicht berührten, dafür dies aber in manchen modernen Produktionen erlebt und umgekehrt.
Mich interessieren die Kernaussagen. Bei Verdi ist es häufig der Konflikt zwischen Vater und Sohn. Denken Sie nur an Verdis „Vespri Siciliani“. Ein Regisseur muss mir zeigen und dann überzeugt er mich, was der Kern einer Geschichte ist. Ich will nicht seine Geschichte sehen, sondern die des Werkes.
DS
Sie haben von jeher verschiedene Komponisten in den Mittelpunkt ihrer musikalischen Arbeit gestellt. Wie geht es für Sie weiter?
GN
Ich stehe vor einem Komponisten, der für mich noch neu ist: Anton Bruckner! So werde ich im Januar erstmals in Helsinki eine Symphonie des Meisters dirigieren und zwar seine neunte Symphonie. Ich möchte ausloten, wie sehr mich dann der Komponist weiter beschäftigen wird. Es braucht eine große innere Ruhe, dem Tempo dieser Musik eine gewisse Freiheit zu lassen. Ich denke bei der Beschäftigung mit Bruckner auch an Wagners „Ring“.
Ich habe mir die neunte Symphonie ausgesucht, die ich ein wenig kryptisch und misteriös empfinde. Sie ist sehr modern geschrieben. Mir gefällt aber auch seine dritte Symphonie, die sehr viel „Sturm und Drang“ in sich trägt.
Ganz anders die siebte Symphonie, die einen besonders goßen Klangraum benötigt. Eine akustische Dreidimensionalität.
Ich bin sehr gespannt auf diese Erfahrung.
DS
Kommen wir noch einmal auf den „Ring“ zu sprechen.
Wie bei Bruckner, so sind bei Wagner auch die Tempi von größter Bedeutung.
Welche Ideen gibt es bei Ihnen dazu bereits?
GN
Es gibt unterschiedliche Welten im Ring, die unterschiedliche Tempi erfordern.
Ich bin eher ein Dirigent, der nach vorne musiziert, als zu langsam zu sein.
Geschichten müssen nach vorne erzählt werden. Aber das entwickelt sich alles im Moment.
DS
Lieber Herr Noseda, vielen Dank für das Gespräch!
Dirk Schauß
2. Dezember 2019